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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2019 — 2020

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B. Die Mitglieder
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I. Antrittsreden
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Michael Pawlik
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https://doi.org/10.11588/diglit.55176#0164
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B. Die Mitglieder

kant von der herkömmlichen. Die damalige Strafrechtswissenschaft kannte zwar
eine im Allgemeinen Teil gelehrte Theorie der objektiven Zurechnung; entwickelt
worden war diese Theorie allerdings nur anhand extrem einfach strukturierter
Tatbestände wie Totschlag oder Körperverletzung, während man die komplexeren
Delikte wie etwa den Betrug mithilfe einer weitgehend ad hoc aus dem Hut ge-
zauberten Topologie in den Griff zu bekommen suchte. Ich ging demgegenüber
davon aus, dass eine wahrhaft allgemeine Lehre von den Figuren strafrechtlicher
Verantwortlichkeit auch derartigen Straftatbeständen gewachsen sein müsse, und
entwarf die erste Skizze einer solchen Konzeption, die nicht nur gesellschaftlich
adäquat, sondern auch normativ überzeugend sein sollte. Von Kant, Fichte und vor
allem Hegel belehrt versuchte ich mich an einem Begründungsgang, der - wohl-
gemerkt auf weniger als 300 Seiten - beim Gedanken der Freiheit als Selbstgesetz-
gebung begann, sich im Entwurf einer allgemeinen Zurechnungslehre fortsetzte
und in einer neuartigen Lesart des Betrugstatbestandes endete. Das Ganze glich
einem Ritt auf dem Bodensee. Geschützt wurde ich allein durch meine Ahnungs-
losigkeit, dank derer mir die Reichweite und die Implikationen zahlreicher meiner
Aussagen verborgen blieben.
Immerhin, 1998 konnte ich mich mit diesem Stück wilden Denkens in Bonn
habilitieren und im darauffolgenden Jahr trat ich meine erste Stelle in Rostock
an, einer Stadt, die ungeachtet ihrer landschaftlichen Schönheit für einen rheini-
schen Vorortkatholiken viel Befremdliches hatte. Dennoch denke ich mit Freude
und Dankbarkeit an die knapp vier Jahre an der Ostsee zurück: Aus dem Ehepaar
Pawlik wurde eine Familie und der Professor Pawlik begann sich mit der Frage
zu beschäftigen, wie sich die Untiefen, über die er mit jugendlichem Ungestüm
hinweggaloppiert war, nach den Regeln der strafrechtlichen Begründungskunst
überbrücken ließen.
Das erste Ergebnis dieser Überlegungen war eine weitere Monographie und
zwar diesmal zu einem Institut des Allgemeinen Teils: dem rechtfertigenden
Notstand. Was legitimiert es, so lautete die Ausgangsfrage, jemandem, der für die
Notlage eines anderen nicht verantwortlich ist, zuzumuten, den Eingriff dieses
anderen in seinen Rechtskreis zu dulden? Kant und der klassische Liberalismus
hatten eine solche Verpflichtung noch verneint, seit dem späten 19. Jahrhundert
setzte sie sich, gestützt auf einen krassen Sozialutilitarismus, im Zivil- und so-
dann auch im Strafrecht durch, in den 1970er Jahren, dem sozialdemokratischen
Jahrzehnt, wurde die Begründung auf „Solidarität“ umgestellt, und mit dem
Aufstieg neoliberalen Denkens ging die Entwicklung vertragstheoretischer, auf
das kluge Eigeninteresse der Rechtsgenossen abstellender Begründungsansätze
einher: soviel zur These von der Zeitunabhängigkeit der allgemeinen Lehren des
Strafrechts. Meine eigene Antwort, einmal mehr von Hegel inspiriert, lautete:
Im Interesse der Aufrechterhaltung eines Zustands realer Freiheitlichkeit wird
dem Notstandspflichtigen kraft seiner Bürgerstellung die Verpflichtung aufer-

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