Antrittsrede von Cornelia Ruhe
in die der Referent einführte, neu und in einer Weise, die mir aufregend und in-
teressant erschien. Die Kultursemiotik Lotmans ist auch im Anschluss zu einem
zentralen Gegenstand meiner Forschung geworden: gemeinsam mit einer Kollegin
aus der Slavistik und einem Kollegen aus der Germanistik habe ich zwei Bände
seiner späten Schriften herausgegeben und eine internationale Tagung zu ihm or-
ganisiert.
Noch sind wir aber bei dem Referat, das mir meinen biographisch bedingten
Blick auf Frankreich und seine Literatur, wie ich gleich erläutern werde, in neuer
und produktiver Weise verständlich machte. Den Referenten von damals habe ich
daher gleich geheiratet.
Zurück zu den Anfängen: Zwei Wochen nach meiner Einschulung in einer
Grundschule im unterfränkischen Würzburg wurde ich wieder aus der Schule ge-
nommen und nach einer langen Autofahrt bestiegen meine Eltern, mein Bruder
und ich in Marseille ein Schiff, dass uns nach Algerien brachte, wo wir von da
an für etwas mehr als ein Jahr leben sollten, weil meine Mutter dort als DAAD-
Lektorin tätig war. In Ain-el-Turck bei Oran wurden mein Bruder und ich in einer
französischen Zwergschule eingeschult, in der es für fünf Klassen mit insgesamt
rund 50 Kindern nur zwei Lehrer gab. Wir konnten beide kein Französisch. Das
erste französische Wort, das ich vom ersten Schultag mit nach Hause brachte, war
„arrete!“/„Hör auf“ - ich habe es nicht auf mich und die französische Sprache
bezogen. Vielmehr habe ich mir das Französische rasch genug angeeignet, um zu-
mindest für einen kurzen und natürlich triumphalen Moment für meinen gro-
ßen Bruder als Übersetzerin zu fungieren - es ist vielleicht wiederum kein Zufall,
wenn die Übersetzung auch als theoretisches Paradigma für mich einige Jahrzehn-
te später zum Forschungsgegenstand geworden ist.
Es war aber nicht nur die Begegnung mit der französischen Sprache, die sich
in diesem Jahr für mich als folgenreich erweisen sollte, sondern vor allem die mit
einem Land und seiner Geschichte: Die Unabhängigkeit Algeriens lag zu diesem
Zeitpunkt zwar bereits 18 Jahre zurück, dennoch waren nicht nur die Spuren der
französischen Kolonisation, sondern auch die des Unabhängigkeitskrieges noch
überall spür- und sichtbar. Wie viele andere so genannte Kooperanten wohnten
wir in einer ehemaligen Franzosenvilla, die nach der Unabhängigkeit und dem
massenhaften Exodus der pieds noirs an verdiente algerische Widerstandskämpfer
umverteilt worden waren. Unser Vermieter erzählte immer wieder, dass er von
den Franzosen gefoltert worden sei. Der Strand, an dem wir am Wochenende re-
gelmäßig baden gingen, war nicht zuletzt dadurch attraktiv, dass sich an ihm die
Ruinen ehemaliger Franzosenvillen befanden, die man nach der Unabhängigkeit
gesprengt hatte und die ein herrlicher, wenn auch höchst unsicherer Spielplatz
waren. Bei Reisen im Land, vor allem in die Kabylei, die eine Hochburg des Wi-
derstands gegen die Franzosen gewesen war, traf man bisweilen auf Spuren der
Napalm-Abwürfe durch die französische Armee.
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in die der Referent einführte, neu und in einer Weise, die mir aufregend und in-
teressant erschien. Die Kultursemiotik Lotmans ist auch im Anschluss zu einem
zentralen Gegenstand meiner Forschung geworden: gemeinsam mit einer Kollegin
aus der Slavistik und einem Kollegen aus der Germanistik habe ich zwei Bände
seiner späten Schriften herausgegeben und eine internationale Tagung zu ihm or-
ganisiert.
Noch sind wir aber bei dem Referat, das mir meinen biographisch bedingten
Blick auf Frankreich und seine Literatur, wie ich gleich erläutern werde, in neuer
und produktiver Weise verständlich machte. Den Referenten von damals habe ich
daher gleich geheiratet.
Zurück zu den Anfängen: Zwei Wochen nach meiner Einschulung in einer
Grundschule im unterfränkischen Würzburg wurde ich wieder aus der Schule ge-
nommen und nach einer langen Autofahrt bestiegen meine Eltern, mein Bruder
und ich in Marseille ein Schiff, dass uns nach Algerien brachte, wo wir von da
an für etwas mehr als ein Jahr leben sollten, weil meine Mutter dort als DAAD-
Lektorin tätig war. In Ain-el-Turck bei Oran wurden mein Bruder und ich in einer
französischen Zwergschule eingeschult, in der es für fünf Klassen mit insgesamt
rund 50 Kindern nur zwei Lehrer gab. Wir konnten beide kein Französisch. Das
erste französische Wort, das ich vom ersten Schultag mit nach Hause brachte, war
„arrete!“/„Hör auf“ - ich habe es nicht auf mich und die französische Sprache
bezogen. Vielmehr habe ich mir das Französische rasch genug angeeignet, um zu-
mindest für einen kurzen und natürlich triumphalen Moment für meinen gro-
ßen Bruder als Übersetzerin zu fungieren - es ist vielleicht wiederum kein Zufall,
wenn die Übersetzung auch als theoretisches Paradigma für mich einige Jahrzehn-
te später zum Forschungsgegenstand geworden ist.
Es war aber nicht nur die Begegnung mit der französischen Sprache, die sich
in diesem Jahr für mich als folgenreich erweisen sollte, sondern vor allem die mit
einem Land und seiner Geschichte: Die Unabhängigkeit Algeriens lag zu diesem
Zeitpunkt zwar bereits 18 Jahre zurück, dennoch waren nicht nur die Spuren der
französischen Kolonisation, sondern auch die des Unabhängigkeitskrieges noch
überall spür- und sichtbar. Wie viele andere so genannte Kooperanten wohnten
wir in einer ehemaligen Franzosenvilla, die nach der Unabhängigkeit und dem
massenhaften Exodus der pieds noirs an verdiente algerische Widerstandskämpfer
umverteilt worden waren. Unser Vermieter erzählte immer wieder, dass er von
den Franzosen gefoltert worden sei. Der Strand, an dem wir am Wochenende re-
gelmäßig baden gingen, war nicht zuletzt dadurch attraktiv, dass sich an ihm die
Ruinen ehemaliger Franzosenvillen befanden, die man nach der Unabhängigkeit
gesprengt hatte und die ein herrlicher, wenn auch höchst unsicherer Spielplatz
waren. Bei Reisen im Land, vor allem in die Kabylei, die eine Hochburg des Wi-
derstands gegen die Franzosen gewesen war, traf man bisweilen auf Spuren der
Napalm-Abwürfe durch die französische Armee.
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