B. Die Mitglieder
Mein erster Blick auf Frankreich und die Franzosen erfolgte durch diesen
Aufenthalt von der Peripherie, von einer Peripherie, deren Geschichte beide Län-
der nachhaltig geprägt hat und die vor allem in Frankreich über Jahrzehnte nur
unzureichend aufgearbeitet worden ist. Dass dieses Verhältnis daher hochgradig
problematisch war, erlebte und erlebe ich jedes Mal, wenn ich die Frage, wo ich
denn Französisch gelernt habe, wahrheitsgemäß beantworte, denn die Reaktionen
auf „In Algerien“ sind nie neutral und vielfach, gerade in der älteren Generati-
on, noch stark von der Kolonialzeit geprägt. Die Aussage positioniert mich selbst
gleichsam in doppelter Weise an der Peripherie.
Die Zeit in Algerien hatte aber nicht nur bei mir ein Interesse für das Verhält-
nis zwischen Frankreich und seinen ehemaligen Kolonien ausgelöst: Meine Eltern
sind beide Romanisten, als solche zunächst in der Mediävistik spezialisiert, mein
Vater schrieb allerdings schon in Algerien an einem Buch über eine zentrale Figur
der Kritik am französischen Kolonialismus, über Aime Cesaire. In den Jahren da-
nach kam für beide nicht nur die Beschäftigung mit der frankophonen maghrebi-
nischen Literatur hinzu, sondern auch die Bekanntschaft, zum Teil Freundschaft
mit einer ganzen Reihe ihrer zentralen Autorinnen und Autoren, die bei uns ein-
und ausgingen. Meine Eltern brachten und bringen aber vor allem eine genuine
und auch nach Jahrzehnten ungebrochene Begeisterung für Literatur mit, die dazu
führte, dass sie immer sehr präsent war - und man kein Buch aus dem elterlichen
Regal lesen konnte, ohne sich neben dem Text selbst auch mit den verschiedenen
Sedimentschichten von Anstreichungen und Kommentaren auseinandersetzen zu
müssen. Dass diese Begeisterung im positiven Sinne ansteckend war, lässt sich da-
ran ermessen, dass nicht nur ich, sondern auch mein Bruder Romanistik studiert
haben. Hinzu kam, im Rahmen der ehrenamtlichen Arbeit für das Würzburger
Filmwochenendc, das ein breites internationales Programm bot (und bietet), ein
von uns allen geteiltes Interesse für Kino. Dieser intellektuell ungemein anregen-
den Atmosphäre verdanke ich sehr viel.
Nicht entgehen konnte mir allerdings auch, dass, wie in dieser Generation
häufig, die akademischen Karrieren meiner Eltern sehr unterschiedlich verlaufen
waren: Mein Vater wurde mit Anfang 30, meine Mutter aber erst mit 50 berufen
- was, wie ich betonen möchte, meinen Vater fast ebenso gegrämt hat wie sie. Den-
noch: Das Durchhaltevermögen, das es meiner Mutter möglich gemacht hat, mit
50 endlich dort anzukommen, wo sie eigentlich schon 15 Jahre vorher hingehört
hätte, habe ich immer sehr bewundert. Es hat mir vor allem und in nicht immer
ganz konfliktfreier Form vor Augen geführt, wie gut ich es hatte in einer Zeit, in
der es ganz systematisch um die Ausmerzung der strukturellen Ungerechtigkeit
ging, von der meine Mutter betroffen gewesen war.
Die Unabhängigkeit von meinen Eltern haben sie selbst früh befördert: Seit
ich neun war, war ich so gut wie jeden Sommer in der Bretagne, bei einer Freundin,
die ich aus der Schule in Algerien kannte; mit fünfzehn war ich für drei Monate in
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Mein erster Blick auf Frankreich und die Franzosen erfolgte durch diesen
Aufenthalt von der Peripherie, von einer Peripherie, deren Geschichte beide Län-
der nachhaltig geprägt hat und die vor allem in Frankreich über Jahrzehnte nur
unzureichend aufgearbeitet worden ist. Dass dieses Verhältnis daher hochgradig
problematisch war, erlebte und erlebe ich jedes Mal, wenn ich die Frage, wo ich
denn Französisch gelernt habe, wahrheitsgemäß beantworte, denn die Reaktionen
auf „In Algerien“ sind nie neutral und vielfach, gerade in der älteren Generati-
on, noch stark von der Kolonialzeit geprägt. Die Aussage positioniert mich selbst
gleichsam in doppelter Weise an der Peripherie.
Die Zeit in Algerien hatte aber nicht nur bei mir ein Interesse für das Verhält-
nis zwischen Frankreich und seinen ehemaligen Kolonien ausgelöst: Meine Eltern
sind beide Romanisten, als solche zunächst in der Mediävistik spezialisiert, mein
Vater schrieb allerdings schon in Algerien an einem Buch über eine zentrale Figur
der Kritik am französischen Kolonialismus, über Aime Cesaire. In den Jahren da-
nach kam für beide nicht nur die Beschäftigung mit der frankophonen maghrebi-
nischen Literatur hinzu, sondern auch die Bekanntschaft, zum Teil Freundschaft
mit einer ganzen Reihe ihrer zentralen Autorinnen und Autoren, die bei uns ein-
und ausgingen. Meine Eltern brachten und bringen aber vor allem eine genuine
und auch nach Jahrzehnten ungebrochene Begeisterung für Literatur mit, die dazu
führte, dass sie immer sehr präsent war - und man kein Buch aus dem elterlichen
Regal lesen konnte, ohne sich neben dem Text selbst auch mit den verschiedenen
Sedimentschichten von Anstreichungen und Kommentaren auseinandersetzen zu
müssen. Dass diese Begeisterung im positiven Sinne ansteckend war, lässt sich da-
ran ermessen, dass nicht nur ich, sondern auch mein Bruder Romanistik studiert
haben. Hinzu kam, im Rahmen der ehrenamtlichen Arbeit für das Würzburger
Filmwochenendc, das ein breites internationales Programm bot (und bietet), ein
von uns allen geteiltes Interesse für Kino. Dieser intellektuell ungemein anregen-
den Atmosphäre verdanke ich sehr viel.
Nicht entgehen konnte mir allerdings auch, dass, wie in dieser Generation
häufig, die akademischen Karrieren meiner Eltern sehr unterschiedlich verlaufen
waren: Mein Vater wurde mit Anfang 30, meine Mutter aber erst mit 50 berufen
- was, wie ich betonen möchte, meinen Vater fast ebenso gegrämt hat wie sie. Den-
noch: Das Durchhaltevermögen, das es meiner Mutter möglich gemacht hat, mit
50 endlich dort anzukommen, wo sie eigentlich schon 15 Jahre vorher hingehört
hätte, habe ich immer sehr bewundert. Es hat mir vor allem und in nicht immer
ganz konfliktfreier Form vor Augen geführt, wie gut ich es hatte in einer Zeit, in
der es ganz systematisch um die Ausmerzung der strukturellen Ungerechtigkeit
ging, von der meine Mutter betroffen gewesen war.
Die Unabhängigkeit von meinen Eltern haben sie selbst früh befördert: Seit
ich neun war, war ich so gut wie jeden Sommer in der Bretagne, bei einer Freundin,
die ich aus der Schule in Algerien kannte; mit fünfzehn war ich für drei Monate in
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