Michael Welker
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Mit Proseminaren und Übungen zu klassischen Themen der Theologie und zeit-
genössischer Theoriebildung hatte ich einen erfreulichen Lehrerfolg, wohl auch, weil
ich vieles erst gleichzeitig mit den Studierenden lernte.
Em sehr wichtiger akademischer Schritt in meinem Leben war die Habilita-
tionsschrift über Alfred North Whitehead und die so genannte amerikanische „Pro-
zesstheologie“. Die Richtungen der Prozesstheologie, die ich auf einer dreimona-
tigen Forschungs-Reise durch die USA kennen lernen konnte, beeindruckten mich
nicht; ich fand sie ähnlich epigonal wie die hegelianisierenden Theologien im
19. und 20. Jahrhundert in Europa. Dagegen interessierte mich sehr Whiteheads Ent-
wicklung vom Mathematiker über den Naturphilosophen hm zu einem interdiszi-
plinär arbeitenden Denker, der auch religiöse Fragestellungen sachadäquat und kon-
struktiv aufnehmen konnte. Whitehead beschäftigte in seiner reiferen Theorieent-
wicklung die Frage: Wie kommt es, dass wir mit mathematisierten Theorien,
religiösen Denkformen, dem sog. gesunden Menschenverstand und anderen mehr
oder weniger disziplinierten Perzeptionsweisen auf die Wirklichkeit zugehen, dabei
jeweils Richtigkeiten und Wahrheiten zu entdecken meinen — und doch im Kontakt
zwischen den verschiedenen Denkformen in so erhebliche Verständigungsschwie-
rigkeiten geraten? Ich entdeckte, dass nach Whitehead andere Denker — interessan-
terweise vor allem in Harvard — ähnliche Fragen stellten. Der Soziologe Talcott Par-
sons, der auch Niklas Luhmanns Systemtheorie prägte, die Whitehead-Schülerin und
Kunsttheoretikerin Susanne Langer, die auch Clifford Geertz ausbildete, der große
Religionswissenschaftler Wilfred Cantwell Smith, der in den USA unter theologi-
schen Hochschullehrern sehr wirkmächtige katholische Theologe Bernard Loner-
gan, der Philosoph Nelson Goodman, sie alle setzten sich — wie Whitehead - mit
dem Zerfall des Rationalitätskontinuums auseinander. Einige von ihnen suchten mit
multisystemischen Denkansätzen darauf zu reagieren. Das heißt, wir müssen kom-
plexe Zusammenhänge verschiedener stabil und distinkt gehaltener Denkformen
kultivieren, die wir themenrelativ in ihrer Leistungskraft erproben und nur ganz
behutsam und partiell vernetzen können. Im Bild gesprochen: Der Bau vieler klei-
ner Brücken und die Erfahrungsprotokolle ersetzen die spekulative Suche nach „der
großen metaphysischen Lösung“.
Der nächste wichtige Schritt auf meinem akademischen Weg lag in der Frage,
ob und wie wir solche Denkformen im systematisch-theologischen Umgang mit
dem biblischen Kanon fruchtbar machen können. Der biblische Kanon, über ein
Jahrtausend gewachsen, hält nicht nur eine Vielzahl von Epochen, historischen Kon-
texten und „Sitzen im Leben“ fest, sondern auch eine begrenzte Vielzahl von para-
digmatischen religiösen Situationsbeschreibungen, Weltbildern und Denkformen.
Die mehrperspektivische Beleuchtung systematisch-theologischer Inhalte und
Denkfiguren vor diesem Hintergrund ermöglicht es uns, Fortschritte und Fehlent-
wicklungen religiösen und theologischen Denkens freizulegen bzw. unglückliche
Optimierungsversuche aufzudecken, deren Lasten größer sind als ihre Leistungskraft.
Wir geraten in die Lage, kontext- und zeitrelative religiöse Formen zu identifizie-
ren, die zu sterilen Ideen oder Ideologien geronnen sind und nur noch propaganda-
und machtgestützt festgehalten werden können. Und wir lernen Stabilisierungs- und
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Mit Proseminaren und Übungen zu klassischen Themen der Theologie und zeit-
genössischer Theoriebildung hatte ich einen erfreulichen Lehrerfolg, wohl auch, weil
ich vieles erst gleichzeitig mit den Studierenden lernte.
Em sehr wichtiger akademischer Schritt in meinem Leben war die Habilita-
tionsschrift über Alfred North Whitehead und die so genannte amerikanische „Pro-
zesstheologie“. Die Richtungen der Prozesstheologie, die ich auf einer dreimona-
tigen Forschungs-Reise durch die USA kennen lernen konnte, beeindruckten mich
nicht; ich fand sie ähnlich epigonal wie die hegelianisierenden Theologien im
19. und 20. Jahrhundert in Europa. Dagegen interessierte mich sehr Whiteheads Ent-
wicklung vom Mathematiker über den Naturphilosophen hm zu einem interdiszi-
plinär arbeitenden Denker, der auch religiöse Fragestellungen sachadäquat und kon-
struktiv aufnehmen konnte. Whitehead beschäftigte in seiner reiferen Theorieent-
wicklung die Frage: Wie kommt es, dass wir mit mathematisierten Theorien,
religiösen Denkformen, dem sog. gesunden Menschenverstand und anderen mehr
oder weniger disziplinierten Perzeptionsweisen auf die Wirklichkeit zugehen, dabei
jeweils Richtigkeiten und Wahrheiten zu entdecken meinen — und doch im Kontakt
zwischen den verschiedenen Denkformen in so erhebliche Verständigungsschwie-
rigkeiten geraten? Ich entdeckte, dass nach Whitehead andere Denker — interessan-
terweise vor allem in Harvard — ähnliche Fragen stellten. Der Soziologe Talcott Par-
sons, der auch Niklas Luhmanns Systemtheorie prägte, die Whitehead-Schülerin und
Kunsttheoretikerin Susanne Langer, die auch Clifford Geertz ausbildete, der große
Religionswissenschaftler Wilfred Cantwell Smith, der in den USA unter theologi-
schen Hochschullehrern sehr wirkmächtige katholische Theologe Bernard Loner-
gan, der Philosoph Nelson Goodman, sie alle setzten sich — wie Whitehead - mit
dem Zerfall des Rationalitätskontinuums auseinander. Einige von ihnen suchten mit
multisystemischen Denkansätzen darauf zu reagieren. Das heißt, wir müssen kom-
plexe Zusammenhänge verschiedener stabil und distinkt gehaltener Denkformen
kultivieren, die wir themenrelativ in ihrer Leistungskraft erproben und nur ganz
behutsam und partiell vernetzen können. Im Bild gesprochen: Der Bau vieler klei-
ner Brücken und die Erfahrungsprotokolle ersetzen die spekulative Suche nach „der
großen metaphysischen Lösung“.
Der nächste wichtige Schritt auf meinem akademischen Weg lag in der Frage,
ob und wie wir solche Denkformen im systematisch-theologischen Umgang mit
dem biblischen Kanon fruchtbar machen können. Der biblische Kanon, über ein
Jahrtausend gewachsen, hält nicht nur eine Vielzahl von Epochen, historischen Kon-
texten und „Sitzen im Leben“ fest, sondern auch eine begrenzte Vielzahl von para-
digmatischen religiösen Situationsbeschreibungen, Weltbildern und Denkformen.
Die mehrperspektivische Beleuchtung systematisch-theologischer Inhalte und
Denkfiguren vor diesem Hintergrund ermöglicht es uns, Fortschritte und Fehlent-
wicklungen religiösen und theologischen Denkens freizulegen bzw. unglückliche
Optimierungsversuche aufzudecken, deren Lasten größer sind als ihre Leistungskraft.
Wir geraten in die Lage, kontext- und zeitrelative religiöse Formen zu identifizie-
ren, die zu sterilen Ideen oder Ideologien geronnen sind und nur noch propaganda-
und machtgestützt festgehalten werden können. Und wir lernen Stabilisierungs- und