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FÖRDERUNG DES WISSENSCHAFTLICHEN NACHWUCHSES
Hochschulen und Schulen des 15. und 16. Jahrhunderts wurden auf der Jahres-
tagung der Gesellschaft für Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte vorgestellt
und in der anschließenden lebhaften Diskussion mit Entwicklungen früherer
und späterer Epochen verglichen.
(4) Im Rahmen des Gesamtprojektes bilden die Forschungen von Pavlina Rych-
terova und Raphaela Veit ein systematisches Gegengewicht zur Untersuchung
‘professionalisierter’ theoretischer Wissenschaftlichkeit, ihrer organisatorischen
Gestalten und politischer Funktionalisierung.
Pavlina Rychterovä untersuchte die Interaktionsformen und -medien theologi-
scher Wissenschaft und Frömmigkeitspraxis schwerpunktmäßig am Beispiel der
„Revelationes“ der Birgitta von Schweden. Im Verlauf der Untersuchung
wurde festgestellt, daß die Hauptrolle der sprachlichen Vermittlung von
Wissenschaft zukommt: Die bewußte Abgrenzung von der zeitgenössischen
universitären Theologie und Philosophie erfolgt durch eine gezielt einfache
Sprache, die als solche den zeitgenössischen philosophisch-theologischen
Diskurs bewußt in Frage stellt. Ganz verzichtet wird in den Texten auf die
schulmäßige Heranziehung und Auslegung der Autoritäten. Dies fällt um so
mehr auf, als literarische Formen der scholastischen Wissenschaft (wie die der
Quästio) übernommen werden. Freilich wird am Ende jeder Quästio von Gott
selbst als der nicht weiter hinterfragbaren Autorität der Lehrinhalt ausdrücklich
in Frage gestellt.
Einen weiteren Forschungsschwerpunkt bildet die volkssprachliche Rezeption
der „Revelationes“ bis in die Frühe Neuzeit, und zwar insbesondere im
„Großen Leben Christi“ des Martin von Cochem, der Visionsberichte — der
größte Teil geht eben auf Birgitta zurück - mit der Nacherzählung der Evan-
gelien, Gebeten, religiösen Liedern, einem Reisebericht und einer naturkund-
lichen Abhandlung zu einem barocken „Thesaurus“ enzyklopädischen Charak-
ters verbindet. Die Visionen der Birgitta bilden so die Grundlage für das Unter-
nehmen, disparate Wissensinhalte mit dem Ziel eines erkenntnismäßigen Aus-
greifens auf ein sinnvolles Weltganzes neu zu integrieren, und zwar mit Blick
auf die seelsorgerliche Praxis.
(5) Raphaela Veit untersuchte demgegenüber die Bedeutung der medizinischen
Praxis und des Anwendungsbezugs im Verhältnis zur Rezeption theoretischer
Quellen und Vorlagen für die medizinische ‘Wissenschaft’ im Horizont der isla-
mischen Kultur. Dies geschah zunächst im Ausgang von Avicennas “Kanon”:
Eine vorläufige Analyse des zweiten Buchs des Kanon zu einfachen Heilmitteln
(also zu einem Feld der ‘praktischen’ Medizin) ergab, daß Avicenna wiederholt
im Zusammenhang unterschiedlicher Lehrmeinungen auf Praxiserlebnisse ver-
weist — sei es bereits bei den antiken Ärzten, sei es aus dem eigenen Umfeld -
und anhand solcher Rekurse auf die Praxis auch Zweifelsfälle entscheidet.
Damit stellt sich die Frage nach Avicennas eigener medizinischer Praxis und
ihrer Bedeutung als Erkenntnisgrundlage für den medizinischen Wissenschaft-
ler, den auf der Basis der griechischen Gelehrsamkeit argumentierenden gelehr-
ten Arzt. Eine inzwischen durchgeführte Analyse ergab, daß nur zwei Textstel-
FÖRDERUNG DES WISSENSCHAFTLICHEN NACHWUCHSES
Hochschulen und Schulen des 15. und 16. Jahrhunderts wurden auf der Jahres-
tagung der Gesellschaft für Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte vorgestellt
und in der anschließenden lebhaften Diskussion mit Entwicklungen früherer
und späterer Epochen verglichen.
(4) Im Rahmen des Gesamtprojektes bilden die Forschungen von Pavlina Rych-
terova und Raphaela Veit ein systematisches Gegengewicht zur Untersuchung
‘professionalisierter’ theoretischer Wissenschaftlichkeit, ihrer organisatorischen
Gestalten und politischer Funktionalisierung.
Pavlina Rychterovä untersuchte die Interaktionsformen und -medien theologi-
scher Wissenschaft und Frömmigkeitspraxis schwerpunktmäßig am Beispiel der
„Revelationes“ der Birgitta von Schweden. Im Verlauf der Untersuchung
wurde festgestellt, daß die Hauptrolle der sprachlichen Vermittlung von
Wissenschaft zukommt: Die bewußte Abgrenzung von der zeitgenössischen
universitären Theologie und Philosophie erfolgt durch eine gezielt einfache
Sprache, die als solche den zeitgenössischen philosophisch-theologischen
Diskurs bewußt in Frage stellt. Ganz verzichtet wird in den Texten auf die
schulmäßige Heranziehung und Auslegung der Autoritäten. Dies fällt um so
mehr auf, als literarische Formen der scholastischen Wissenschaft (wie die der
Quästio) übernommen werden. Freilich wird am Ende jeder Quästio von Gott
selbst als der nicht weiter hinterfragbaren Autorität der Lehrinhalt ausdrücklich
in Frage gestellt.
Einen weiteren Forschungsschwerpunkt bildet die volkssprachliche Rezeption
der „Revelationes“ bis in die Frühe Neuzeit, und zwar insbesondere im
„Großen Leben Christi“ des Martin von Cochem, der Visionsberichte — der
größte Teil geht eben auf Birgitta zurück - mit der Nacherzählung der Evan-
gelien, Gebeten, religiösen Liedern, einem Reisebericht und einer naturkund-
lichen Abhandlung zu einem barocken „Thesaurus“ enzyklopädischen Charak-
ters verbindet. Die Visionen der Birgitta bilden so die Grundlage für das Unter-
nehmen, disparate Wissensinhalte mit dem Ziel eines erkenntnismäßigen Aus-
greifens auf ein sinnvolles Weltganzes neu zu integrieren, und zwar mit Blick
auf die seelsorgerliche Praxis.
(5) Raphaela Veit untersuchte demgegenüber die Bedeutung der medizinischen
Praxis und des Anwendungsbezugs im Verhältnis zur Rezeption theoretischer
Quellen und Vorlagen für die medizinische ‘Wissenschaft’ im Horizont der isla-
mischen Kultur. Dies geschah zunächst im Ausgang von Avicennas “Kanon”:
Eine vorläufige Analyse des zweiten Buchs des Kanon zu einfachen Heilmitteln
(also zu einem Feld der ‘praktischen’ Medizin) ergab, daß Avicenna wiederholt
im Zusammenhang unterschiedlicher Lehrmeinungen auf Praxiserlebnisse ver-
weist — sei es bereits bei den antiken Ärzten, sei es aus dem eigenen Umfeld -
und anhand solcher Rekurse auf die Praxis auch Zweifelsfälle entscheidet.
Damit stellt sich die Frage nach Avicennas eigener medizinischer Praxis und
ihrer Bedeutung als Erkenntnisgrundlage für den medizinischen Wissenschaft-
ler, den auf der Basis der griechischen Gelehrsamkeit argumentierenden gelehr-
ten Arzt. Eine inzwischen durchgeführte Analyse ergab, daß nur zwei Textstel-