Das WIN-Kolleg | 323
gesellschaftliche Riten wie Schwertleite, Hochzeit und Herrschaftsübernahme orga-
nisiert. In den literarischen Entwürfen der Zeit werden diese Lebensstufen vanant
diskursiviert und im fiktionalen Medium produktiv fortgeschrieben. Dabei verfolgen
auffällig viele volkssprachige Romane den Lebenslauf eines Helden über mehrere
Altersstufen, lassen ihn persönliche Veränderungen durchlaufen, kombinieren diese
Schilderung jedoch mit einer prägenden Eingliederung in eine Familienhistorie, die
eine erbliche, über die Jahre konstant bleibende Komponente im Charakter der
Figur verankert. Die zeitliche Stufung eines personalen Lebenslaufs, die über Rei-
fungs- und Alterungsprozesse Modulationen des menschlichen Ichs bewirkt, wird
durch die genealogische Einordnung mit einem Gegengewicht versehen, das dem
Protagonisten einen festen Entwicklungsrahmen vorgibt und eine transpersonale
Kontinuität bildet.
Das Textkorpus des dritten Teilprojekts ist mit dem hochhöfischen Roman
(12./13. Jh.) und dem Prosaroman (15. Jh.) auf zwei signifikante Perioden der Gat-
tungsgeschichte eingeschränkt und wird nach der Verknüpfung von individuellem
Lebenslaufund genealogischer Prägung durch die Vorgeschichte der Eltern befragt.
Was die literaturwissenschaftliche Forschung gern als simplen narrativen Kunstgriff
der Vorausdeutung klassifiziert, entfaltet in der Engführung von Lebensstufen und
Genealogie em sinnstiftendes Potential. Die Genealogie bereichert den dynamischen
Ablauf der Lebensalter um em Moment der Kontinuität, und so erfährt der über-
gangsreiche Lebensweg der Figur einen Ausgleich, der gewissermaßen ‘die Zeit
anhält’ und dem formbaren Charakter Stabilität verleiht. In der vergleichenden Per-
spektive auf die genannten Schlüsseltexte untersucht das Teilprojekt, wie im literari-
schen Medium über das Denkmuster der Genealogie eine Gegenperspektive zur
Endlichkeit des menschlichen Lebens eröffnet wird, die jenseits von naturkundlichen
Vererbungstheorien gerade im Rahmen des fiktionalen Entwurfs frei gesetzt werden
kann.
In den ersten Monaten der Projektarbeit stand nach der Erschließung des Text-
korpus zunächst eine Betrachtung flankierender literarischer Texte auch anderer
Gattungen (v. a. Minnesang) im Vordergrund, um aus einem möglichst vielschichti-
gen Panorama literarischer Stimmen eine Topik der Lebensalter zu erschließen und
in ihrer narrativen Vielfalt und argumentativen Anschlussfähigkeit zu erfassen. Diese
Lebensaltertopik dient als Basis, um das Zusammenwirken von genealogischem
Gerüst und Varianten Lebensaltern in der literarischen Figurenkonzeption zu analy-
sieren und einen Zugang zur vieldiskutierten Frage zu finden, wie personale Iden-
tität in der vormodernen Literatur dargestellt wird (Sandra Linden).
IV Die Erfindung des ‘gefährlichen Alters’ in der Literatur
Das vierte Teilprojekt ist im Fach neuere deutsche Literaturwissenschaft angesiedelt
und untersucht die Konstruktion und Variation des ‘gefährlichen Alters’ in der Lite-
ratur vom 19. bis ins 20. Jahrhundert. Bereits in der Antike markierten bestimmte
anni climacterii den Übertritt zwischen den Lebensalterstufen. Während sich aber
die antiken, an der Siebenerzahl orientierten Wechseljahre im Laufe eines Lebens
gesellschaftliche Riten wie Schwertleite, Hochzeit und Herrschaftsübernahme orga-
nisiert. In den literarischen Entwürfen der Zeit werden diese Lebensstufen vanant
diskursiviert und im fiktionalen Medium produktiv fortgeschrieben. Dabei verfolgen
auffällig viele volkssprachige Romane den Lebenslauf eines Helden über mehrere
Altersstufen, lassen ihn persönliche Veränderungen durchlaufen, kombinieren diese
Schilderung jedoch mit einer prägenden Eingliederung in eine Familienhistorie, die
eine erbliche, über die Jahre konstant bleibende Komponente im Charakter der
Figur verankert. Die zeitliche Stufung eines personalen Lebenslaufs, die über Rei-
fungs- und Alterungsprozesse Modulationen des menschlichen Ichs bewirkt, wird
durch die genealogische Einordnung mit einem Gegengewicht versehen, das dem
Protagonisten einen festen Entwicklungsrahmen vorgibt und eine transpersonale
Kontinuität bildet.
Das Textkorpus des dritten Teilprojekts ist mit dem hochhöfischen Roman
(12./13. Jh.) und dem Prosaroman (15. Jh.) auf zwei signifikante Perioden der Gat-
tungsgeschichte eingeschränkt und wird nach der Verknüpfung von individuellem
Lebenslaufund genealogischer Prägung durch die Vorgeschichte der Eltern befragt.
Was die literaturwissenschaftliche Forschung gern als simplen narrativen Kunstgriff
der Vorausdeutung klassifiziert, entfaltet in der Engführung von Lebensstufen und
Genealogie em sinnstiftendes Potential. Die Genealogie bereichert den dynamischen
Ablauf der Lebensalter um em Moment der Kontinuität, und so erfährt der über-
gangsreiche Lebensweg der Figur einen Ausgleich, der gewissermaßen ‘die Zeit
anhält’ und dem formbaren Charakter Stabilität verleiht. In der vergleichenden Per-
spektive auf die genannten Schlüsseltexte untersucht das Teilprojekt, wie im literari-
schen Medium über das Denkmuster der Genealogie eine Gegenperspektive zur
Endlichkeit des menschlichen Lebens eröffnet wird, die jenseits von naturkundlichen
Vererbungstheorien gerade im Rahmen des fiktionalen Entwurfs frei gesetzt werden
kann.
In den ersten Monaten der Projektarbeit stand nach der Erschließung des Text-
korpus zunächst eine Betrachtung flankierender literarischer Texte auch anderer
Gattungen (v. a. Minnesang) im Vordergrund, um aus einem möglichst vielschichti-
gen Panorama literarischer Stimmen eine Topik der Lebensalter zu erschließen und
in ihrer narrativen Vielfalt und argumentativen Anschlussfähigkeit zu erfassen. Diese
Lebensaltertopik dient als Basis, um das Zusammenwirken von genealogischem
Gerüst und Varianten Lebensaltern in der literarischen Figurenkonzeption zu analy-
sieren und einen Zugang zur vieldiskutierten Frage zu finden, wie personale Iden-
tität in der vormodernen Literatur dargestellt wird (Sandra Linden).
IV Die Erfindung des ‘gefährlichen Alters’ in der Literatur
Das vierte Teilprojekt ist im Fach neuere deutsche Literaturwissenschaft angesiedelt
und untersucht die Konstruktion und Variation des ‘gefährlichen Alters’ in der Lite-
ratur vom 19. bis ins 20. Jahrhundert. Bereits in der Antike markierten bestimmte
anni climacterii den Übertritt zwischen den Lebensalterstufen. Während sich aber
die antiken, an der Siebenerzahl orientierten Wechseljahre im Laufe eines Lebens