Festvortrag von Otfried Höffe
dass „in den folgenden Jahrtausenden ganz verschiedene Entwicklungen“ stattfm-
den. Genau deshalb, wegen dieser Verschiedenheit, dürften sich die angesproche-
nen Entwicklungen weit weniger „ähnlichen“ Quellen verdanken als den schon
damals anderen „geistigen Ursprüngen“.
Aus diesem Grund, wegen der erheblichen Differenz, die zwischen der grie-
chischen Rationalität und der vorderasiatischen Erlösungsreligion, zusätzlich dem
chinesischen Denken liegt, überzeugt Jaspers’ Grundthese nicht (1949, 27): „Die
Achsenzeit assimiliert alles übrige. Von ihr aus erhält die Weltgeschichte die einzi-
ge Struktur und Einheit, die durchhält oder doch bis heute durchgehalten ist.“ In
Wahrheit hat sich lediglich die vornehmlich von den Griechen ausgehende ratio-
nale Weltbetrachtung über den ganzen Globus verbreitet und so gut wie allerorten
durchgesetzt (vgl. Höffe 2017). Die Erlösungsreligionen hingegen sind zwar Welt-
religionen geworden, stehen aber untereinander, überdies in Form verschiedener
Ausprägungen (im Christentum: Konfessionen) in sich in Konkurrenz. Eine mit
der griechischen Wissenschaftlichkeit vergleichbare, überall kontroverslos aner-
kannte Präsenz fehlt ihnen und wird ihnen, hier ist Pathos erlaubt, vermutlich bis
in alle Ewigkeit fehlen.
Dies ist unbestritten: Sofern die Religionen zu einer wahrhaften Theo-logie
finden, bedienen sie sich der Rationalität. In einer Philosophie der Religion wird
die Religion sogar ausdrücklich zu einem Gegenstand rationalen Denkens. Beide
Möglichkeiten können aber nicht den Abgrund überwinden, der zwischen Ratio-
nalität und Offenbarung besteht. Dort spricht eine innere Autorität des Menschen,
seine Sprach- und Vernunftbegabung, hier eine äußere Autorität, die zudem be-
ansprucht, dem Menschen und der allgemein menschlichen Vernunft so deutlich
überlegen zu sein, dass sie einen Gehorsam fordern und im Fall von Abrahams
Bereitschaft, seinen Sohn zu opfern, einen un-menschlichen, bedingungslosen
Gehorsam verlangen darf.
VII. Was ist Europa?
Das Stichwort der Achsenzeit bereitet Jaspers auf die erste Frage, was Europa denn
sei, nur vor. Im Jahr 2017 hat die Europäische Union ein Haus der Europäischen
Geschichte eröffnet. Hätte man sich statt vom Feuilletonliebling Slavoj Zizek bes-
ser von einem wirklichen Philosophen wie Karl Jaspers inspirieren lassen, so wäre
das Haus nicht so armselig, wie es nun dasteht, ausgefallen: Die vielen Jahrhunderte
vor der Französischen Revolution finden dort praktisch keinen Raum. In der Phi-
losophie beispielsweise taucht nur Aristoteles auf, während Sokrates und Platon,
Cicero, Augustinus, Thomas von Aquin, Machiavelli, Descartes und Hobbes über
Kant und Hegel bis Nietzsche, Husserl, Heidegger und Wittgenstein, also doch
allzu viele große Denker, fehlen. Weiterhin findet sich etwa statt Adorno, Bloch,
Habermas oder Horkheimer lediglich - man vergegenwärtige sich diese maßlose
43
dass „in den folgenden Jahrtausenden ganz verschiedene Entwicklungen“ stattfm-
den. Genau deshalb, wegen dieser Verschiedenheit, dürften sich die angesproche-
nen Entwicklungen weit weniger „ähnlichen“ Quellen verdanken als den schon
damals anderen „geistigen Ursprüngen“.
Aus diesem Grund, wegen der erheblichen Differenz, die zwischen der grie-
chischen Rationalität und der vorderasiatischen Erlösungsreligion, zusätzlich dem
chinesischen Denken liegt, überzeugt Jaspers’ Grundthese nicht (1949, 27): „Die
Achsenzeit assimiliert alles übrige. Von ihr aus erhält die Weltgeschichte die einzi-
ge Struktur und Einheit, die durchhält oder doch bis heute durchgehalten ist.“ In
Wahrheit hat sich lediglich die vornehmlich von den Griechen ausgehende ratio-
nale Weltbetrachtung über den ganzen Globus verbreitet und so gut wie allerorten
durchgesetzt (vgl. Höffe 2017). Die Erlösungsreligionen hingegen sind zwar Welt-
religionen geworden, stehen aber untereinander, überdies in Form verschiedener
Ausprägungen (im Christentum: Konfessionen) in sich in Konkurrenz. Eine mit
der griechischen Wissenschaftlichkeit vergleichbare, überall kontroverslos aner-
kannte Präsenz fehlt ihnen und wird ihnen, hier ist Pathos erlaubt, vermutlich bis
in alle Ewigkeit fehlen.
Dies ist unbestritten: Sofern die Religionen zu einer wahrhaften Theo-logie
finden, bedienen sie sich der Rationalität. In einer Philosophie der Religion wird
die Religion sogar ausdrücklich zu einem Gegenstand rationalen Denkens. Beide
Möglichkeiten können aber nicht den Abgrund überwinden, der zwischen Ratio-
nalität und Offenbarung besteht. Dort spricht eine innere Autorität des Menschen,
seine Sprach- und Vernunftbegabung, hier eine äußere Autorität, die zudem be-
ansprucht, dem Menschen und der allgemein menschlichen Vernunft so deutlich
überlegen zu sein, dass sie einen Gehorsam fordern und im Fall von Abrahams
Bereitschaft, seinen Sohn zu opfern, einen un-menschlichen, bedingungslosen
Gehorsam verlangen darf.
VII. Was ist Europa?
Das Stichwort der Achsenzeit bereitet Jaspers auf die erste Frage, was Europa denn
sei, nur vor. Im Jahr 2017 hat die Europäische Union ein Haus der Europäischen
Geschichte eröffnet. Hätte man sich statt vom Feuilletonliebling Slavoj Zizek bes-
ser von einem wirklichen Philosophen wie Karl Jaspers inspirieren lassen, so wäre
das Haus nicht so armselig, wie es nun dasteht, ausgefallen: Die vielen Jahrhunderte
vor der Französischen Revolution finden dort praktisch keinen Raum. In der Phi-
losophie beispielsweise taucht nur Aristoteles auf, während Sokrates und Platon,
Cicero, Augustinus, Thomas von Aquin, Machiavelli, Descartes und Hobbes über
Kant und Hegel bis Nietzsche, Husserl, Heidegger und Wittgenstein, also doch
allzu viele große Denker, fehlen. Weiterhin findet sich etwa statt Adorno, Bloch,
Habermas oder Horkheimer lediglich - man vergegenwärtige sich diese maßlose
43