Verleihung des Karl-Jaspers-Preises 2019
Heraklit, Parmenides und Plotin, die Abendländer Anselm und Spinoza, sowie
den Chinesen Laotse und den Inder Nagarjuna. Diese großen Metaphysiker will
Jaspers in ein „Gespräch der Geister“ bringen, um eine universale, die Kulturen
verbindende Metaphysik zu erreichen. Jaspers verfügte über eine immense phi-
losophichistorische Belesenheit, die, wie man sieht, die Klassiker des asiatischen
Denkens einschloss. Diese Aufgeschlossenheit für asiatisches Denken aber ver-
dankte Jaspers wohl zwei eminenten Heidelberger Kollegen, die beide zu seinem
Freundeskreis gehörten: dem Indologen Heinrich Zimmer und dem Sinologen
und Buddhismusexperten Max Walleser. Wie wichtig Zimmer und Walleser für
Jaspers waren, beweist der Blick in seine beiden Kapitel über Laotse und Nagar-
juna. So waren es Heidelberger Anstöße und Anregungen, die Jaspers zu seiner
Idee einer „Weltphilosophie“ inspirierten, die er, wie ein Brief von 1950 beweist,
erstmals 1937 fasste, also noch in Heidelberg. Es ist darum auch nur angemessen,
dass das Heidelberger Zentrum für Transkulturelle Studien, zu dessen Gründern
Rudolf Wagner gehörte, den Namen von Karl Jaspers trägt.
II.
Ich lernte Rudolf Wagner kurz nach 2000 kennen, als unsere bisherigen Fakul-
täten zur neuen Philosophischen Fakultät fusioniert worden waren. Wagner kri-
tisierte die in seinen Augen einseitige Ausrichtung des Philosophiestudiums auf
europäische Philosophie. Um das zu ändern, schlug er mir eines Tages vor, ein
gemeinsames Seminar über Laotse zu veranstalten. Ich willigte gerne ein. Wag-
ners Idee war, nicht nur das berühmte und für seine tiefgründige Vieldeutigkeit
auch berüchtigte Tao Te King gemeinsam zu lesen, sondern es zusammen mit
seinem für Rudolf Wagner jedenfalls maßgebenden antiken chinesischen Kom-
mentar zu lesen. Dieser stammt von Wang Bi, einem chinesischen Philosophen
aus der ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts n. Chr., also aus der Zeit des Zusam-
menbruchs der Han-Dynastie - eine Katastrophe, die im historischen Gedächt-
nis Chinas ein ähnliches Trauma hinterlassen hat wie der Zusammenbruch des
Weströmischen Reiches zwei Jahrhunderte später im Gedächtnis Europas. Wang
Bi war also ein Zeitgenosse Plotins, des größten antiken Platonikers, und er hat
für Laotse Ähnliches geleistet wie Plotin für Platon. Rudolf Wagner hat Wang Bis
Kommentar zu Laotse in einer vorbildlichen kritischen Edition herausgegeben,
ins Englische übersetzt (leider nicht ins Deutsche!) und ausführlich erläutert;
und er hat ihn durch eine wunderbare Monographie erschlossen: Langnage, On-
tology and Political Philosophy in China, die im selben Jahr erschien wie seine Editi-
on des Kommentars, 2003. Wagner schenkte mir zur Vorbereitung auf unser ge-
meinsames Seminar seine beiden Bücher über Wang Bi. Als ich sie las, fielen mir
fast die Augen aus dem Kopf. Was ich bei Wang Bi fand, war eine henologische
Metaphysik, deren Ähnlichkeit mit dem Platonismus ebenso verblüffend wie
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Heraklit, Parmenides und Plotin, die Abendländer Anselm und Spinoza, sowie
den Chinesen Laotse und den Inder Nagarjuna. Diese großen Metaphysiker will
Jaspers in ein „Gespräch der Geister“ bringen, um eine universale, die Kulturen
verbindende Metaphysik zu erreichen. Jaspers verfügte über eine immense phi-
losophichistorische Belesenheit, die, wie man sieht, die Klassiker des asiatischen
Denkens einschloss. Diese Aufgeschlossenheit für asiatisches Denken aber ver-
dankte Jaspers wohl zwei eminenten Heidelberger Kollegen, die beide zu seinem
Freundeskreis gehörten: dem Indologen Heinrich Zimmer und dem Sinologen
und Buddhismusexperten Max Walleser. Wie wichtig Zimmer und Walleser für
Jaspers waren, beweist der Blick in seine beiden Kapitel über Laotse und Nagar-
juna. So waren es Heidelberger Anstöße und Anregungen, die Jaspers zu seiner
Idee einer „Weltphilosophie“ inspirierten, die er, wie ein Brief von 1950 beweist,
erstmals 1937 fasste, also noch in Heidelberg. Es ist darum auch nur angemessen,
dass das Heidelberger Zentrum für Transkulturelle Studien, zu dessen Gründern
Rudolf Wagner gehörte, den Namen von Karl Jaspers trägt.
II.
Ich lernte Rudolf Wagner kurz nach 2000 kennen, als unsere bisherigen Fakul-
täten zur neuen Philosophischen Fakultät fusioniert worden waren. Wagner kri-
tisierte die in seinen Augen einseitige Ausrichtung des Philosophiestudiums auf
europäische Philosophie. Um das zu ändern, schlug er mir eines Tages vor, ein
gemeinsames Seminar über Laotse zu veranstalten. Ich willigte gerne ein. Wag-
ners Idee war, nicht nur das berühmte und für seine tiefgründige Vieldeutigkeit
auch berüchtigte Tao Te King gemeinsam zu lesen, sondern es zusammen mit
seinem für Rudolf Wagner jedenfalls maßgebenden antiken chinesischen Kom-
mentar zu lesen. Dieser stammt von Wang Bi, einem chinesischen Philosophen
aus der ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts n. Chr., also aus der Zeit des Zusam-
menbruchs der Han-Dynastie - eine Katastrophe, die im historischen Gedächt-
nis Chinas ein ähnliches Trauma hinterlassen hat wie der Zusammenbruch des
Weströmischen Reiches zwei Jahrhunderte später im Gedächtnis Europas. Wang
Bi war also ein Zeitgenosse Plotins, des größten antiken Platonikers, und er hat
für Laotse Ähnliches geleistet wie Plotin für Platon. Rudolf Wagner hat Wang Bis
Kommentar zu Laotse in einer vorbildlichen kritischen Edition herausgegeben,
ins Englische übersetzt (leider nicht ins Deutsche!) und ausführlich erläutert;
und er hat ihn durch eine wunderbare Monographie erschlossen: Langnage, On-
tology and Political Philosophy in China, die im selben Jahr erschien wie seine Editi-
on des Kommentars, 2003. Wagner schenkte mir zur Vorbereitung auf unser ge-
meinsames Seminar seine beiden Bücher über Wang Bi. Als ich sie las, fielen mir
fast die Augen aus dem Kopf. Was ich bei Wang Bi fand, war eine henologische
Metaphysik, deren Ähnlichkeit mit dem Platonismus ebenso verblüffend wie
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