Antrittsrede von Claudia Maienborn
2005 kam der Ruf auf den Lehrstuhl für Germanistische Linguistik am Deut-
schen Seminar in Tübingen. Für mich der ideale Ort, um mein Lebensthema in
der Forschung, nämlich den Entwurf einer kognitiv verankerten, formal expliziten
Theorie der Bedeutung natürlicher Sprache in realen Kontexten, gemeinsam mit
meinen Kollegen aus der Linguistik, der Computerlinguistik und der Psycholo-
gie voranzubringen. Aktuell machen wir das im Rahmen des SFB 833 Bedeutungs-
konstitution.
Worum geht es mir in meiner Forschung? Ich will die Strukturen ver-
stehen, die der Bedeutung von Sprache zugrunde liegen, und die Mechanismen
erforschen, mithilfe derer diese Strukturen kombiniert werden. Insbesondere geht
es mir um die Frage, ob die Vorgaben des Sprachsystems an die Interpretation
eines Satzes eine besonders herausgehobene Stellung haben gegenüber anderen
Wissensquellen; ob es so etwas gibt wie eine genuin sprachliche Bedeutung im
Unterschied zu unserem weitergehenden, sprachunabhängigen Weltwissen und
der jeweils verfügbaren Kontextinformation.
Ich will Ihnen dies kurz anhand eines Beispiels verdeutlichen: Bei dem Satz
Otto steht absichtlich auf dem Tisch, ist klar, dass es Otto ist, der hier Absichten hegt.
Bei: Der Wecker steht absichtlich auf dem Tisch, scheidet - nach allem, was in unserer
aktualen Welt für Artefakte gilt - der Wecker als Träger von Absichten aus. Den-
noch ist der Satz offenbar in Ordnung. Wir interpretieren ihn dahingehend, dass
hier ein Mensch eingeschoben werden muss, der den Wecker absichtlich auf den
Tisch gestellt hat. Wie kommen wir darauf? Welche Mechanismen ermöglichen
diese Art der Bedeutungsanpassung? Man könnte meinen: „Naja, das sagt uns halt
unser Weltwissen. Das ist eben die einzig plausible Interpretation.“ Aber das kann
nicht die Erklärung sein. Das sieht man, wenn wir absichtlich durch ein vergleich-
bares Adjektiv wie freiwillig ersetzen: Otto steht freiwillig auf dem Tisch, ist nach wie
vor prima. Aber der Satz Der Wecker steht freiwillig auf dem Tisch, ist vollkommen
ausgeschlossen. Obwohl wir doch auch hier sagen könnten: „Naja, plausiblerwei-
se deuten wir den Satz so, dass hier jemand freiwillig den Wecker auf den Tisch
gestellt hat.“ Unser Weltwissen gibt also auch in diesem Fall grünes Licht, aber
die Sprache legt offenbar ein Veto ein. Die Klärung dieser Art der Interaktion von
Sprachwissen und Weltwissen bei der Bedeutungszuordnung ist Gegenstand eines
SFB-Projekts von mir.2
Gemeinsam mit meiner Tübinger Kollegin Barbara Kaup von der Kogniti-
onspsychologie untersuche ich diesen Fragenkomplex auch experimentell. Wir ha-
ben verschiedene bchaviorale und neuronale Studien durchgeführt, die aufklären
2 SFB 833: Projekt Al (Maienborn): Kombinatorische Bedeutungsvariation an der Semantik/Pragma-
tik-Schnittstelle. Eine elegante Lösung für das absiditlich/freiwillig-Rätsei hat in diesem Rahmen
Frauke Buscher mit ihrer Dissertation vorgelegt, erschienen als Buscher, Frauke (2019). Kom-
positionalität und ihre Freiräume: Zurflexiblen Interpretation von Einstellungsadverbialen. (Studien zur
deutschen Grammatik 95). Tübingen: Stauffenburg.
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2005 kam der Ruf auf den Lehrstuhl für Germanistische Linguistik am Deut-
schen Seminar in Tübingen. Für mich der ideale Ort, um mein Lebensthema in
der Forschung, nämlich den Entwurf einer kognitiv verankerten, formal expliziten
Theorie der Bedeutung natürlicher Sprache in realen Kontexten, gemeinsam mit
meinen Kollegen aus der Linguistik, der Computerlinguistik und der Psycholo-
gie voranzubringen. Aktuell machen wir das im Rahmen des SFB 833 Bedeutungs-
konstitution.
Worum geht es mir in meiner Forschung? Ich will die Strukturen ver-
stehen, die der Bedeutung von Sprache zugrunde liegen, und die Mechanismen
erforschen, mithilfe derer diese Strukturen kombiniert werden. Insbesondere geht
es mir um die Frage, ob die Vorgaben des Sprachsystems an die Interpretation
eines Satzes eine besonders herausgehobene Stellung haben gegenüber anderen
Wissensquellen; ob es so etwas gibt wie eine genuin sprachliche Bedeutung im
Unterschied zu unserem weitergehenden, sprachunabhängigen Weltwissen und
der jeweils verfügbaren Kontextinformation.
Ich will Ihnen dies kurz anhand eines Beispiels verdeutlichen: Bei dem Satz
Otto steht absichtlich auf dem Tisch, ist klar, dass es Otto ist, der hier Absichten hegt.
Bei: Der Wecker steht absichtlich auf dem Tisch, scheidet - nach allem, was in unserer
aktualen Welt für Artefakte gilt - der Wecker als Träger von Absichten aus. Den-
noch ist der Satz offenbar in Ordnung. Wir interpretieren ihn dahingehend, dass
hier ein Mensch eingeschoben werden muss, der den Wecker absichtlich auf den
Tisch gestellt hat. Wie kommen wir darauf? Welche Mechanismen ermöglichen
diese Art der Bedeutungsanpassung? Man könnte meinen: „Naja, das sagt uns halt
unser Weltwissen. Das ist eben die einzig plausible Interpretation.“ Aber das kann
nicht die Erklärung sein. Das sieht man, wenn wir absichtlich durch ein vergleich-
bares Adjektiv wie freiwillig ersetzen: Otto steht freiwillig auf dem Tisch, ist nach wie
vor prima. Aber der Satz Der Wecker steht freiwillig auf dem Tisch, ist vollkommen
ausgeschlossen. Obwohl wir doch auch hier sagen könnten: „Naja, plausiblerwei-
se deuten wir den Satz so, dass hier jemand freiwillig den Wecker auf den Tisch
gestellt hat.“ Unser Weltwissen gibt also auch in diesem Fall grünes Licht, aber
die Sprache legt offenbar ein Veto ein. Die Klärung dieser Art der Interaktion von
Sprachwissen und Weltwissen bei der Bedeutungszuordnung ist Gegenstand eines
SFB-Projekts von mir.2
Gemeinsam mit meiner Tübinger Kollegin Barbara Kaup von der Kogniti-
onspsychologie untersuche ich diesen Fragenkomplex auch experimentell. Wir ha-
ben verschiedene bchaviorale und neuronale Studien durchgeführt, die aufklären
2 SFB 833: Projekt Al (Maienborn): Kombinatorische Bedeutungsvariation an der Semantik/Pragma-
tik-Schnittstelle. Eine elegante Lösung für das absiditlich/freiwillig-Rätsei hat in diesem Rahmen
Frauke Buscher mit ihrer Dissertation vorgelegt, erschienen als Buscher, Frauke (2019). Kom-
positionalität und ihre Freiräume: Zurflexiblen Interpretation von Einstellungsadverbialen. (Studien zur
deutschen Grammatik 95). Tübingen: Stauffenburg.
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