54 | JAHRESFEIER
Von Kriegsschuld war im Vertrag keine Rede, und im Gegensatz zu den seit
den napoleonischen Verträgen üblich gewordenen Gepflogenheiten wurde auf Zah-
lungen als Ersatz für Kriegskosten und Schäden ausdrücklich verzichtet (Art. ^.Erst-
mals in der Geschichte der neuzeitlichen Friedensverträge verpflichtete sich dagegen
ein Vertragspartner, seine Streitkräfte völlig aufzulösen; die Demobilmachung galt
auch für „die von der jetzigen Regierung neugebildeten Heeresteile“, die sog. Rote
Garde. Die russischen Kriegsschiffe sollten „bis zum allgemeinen Friedensschluß“ in
den Häfen bleiben oder gleichfalls sofort abgerüstet werden (Art. 5). In der Sprachen-
frage herrschte Gleichberechtigung — der russische Text war genau so authentisch wie
der deutsche (bzw. ungarische, bulgarische und türkische) Text.
Die rechtliche Ungleichheit der Vertragspartner, die in Brest-Litowsk — und
ebenso im Frieden von Bukarest mit Rumänien — praktiziert wurde, steigerte sich in
den PariserVorortverträgen von 1919/20 noch beträchtlich. Zum erstenmal in der
Geschichte des neuzeitlichen Friedensvertrags fanden keinerlei Verhandlungen zwi-
schen den Vertragschließenden statt — um die Einheit der Siegerkoalition nicht zu
gefährden, durften Einwände gegen den vorgelegten Text nur schriftlich vorgebracht
werden und blieben fast ausnahmslos unberücksichtigt.30 Das Ziel des Versailler Vertrags
mit Deutschland — dieser Vertrag pars pro toto für die anderen Verträge genommen —
war laut Präambel „une Paix solide, juste et durable“. Damit war erstmals in der
Geschichte des neuzeitlichen Friedensvertrags die Gerechtigkeit als politisch-juri-
stisch-moralische Kategorie emgeführt und zur Norm eines Friedensschlusses gemacht
worden. Offenbar ging diese Neuerung auf die amerikanische Politik zurück, denn
Präsident Wilson benutzte in seiner Kongreßrede im Januar 1918, in der er die Vier-
zehn Punkte verkündete, die Formulierung, das Ziel seines Programms sei „a just and
stable peace“.31 Aber auch die französischen Politiker sprachen auf der Friedenskonfe-
renz immer wieder von der Gerechtigkeit, der zum Siege verholten werden müsse.
Eine Invocatio fehlte dem Vertrag, ebenso fehlte die traditionelle, selbst in
Brest-Litowsk nicht verweigerte Versicherung von Frieden und Freundschaft. Statt
ihrer enthielt der Versailler Frieden lediglich die dürre Feststellung, daß mit dem
Inkrafttreten des Vertrags „der Kriegszustand em Ende nimmt“ und „die amtlichen
Beziehungen ... mit Deutschland wieder aufgenommen“ werden — „und mit dem
einen oder anderen der deutschen Staaten“, wie, prospektiv auf eine mögliche Dis-
membration des Bismarckreiches abzielend, hinzugefugt wurde. Ein Novum der
Vorortverträge war, daß zu den Signataren Staaten gehörten, die sich erst nach
Kriegsende gebildet hatten: Polen, Tschechoslowakei, „der serbisch-kroatisch-slowe-
nische Staat“, das nachmalige Jugoslawien. Ebensowenig war es in der bisherigen
Vertragspraxis vorgekommen, daß in den Frieden ein umfangreicher Textteil, die
Völkerbundssatzung, aufgenommen wurde, der die besiegten Unterzeichnerstaaten
gar nicht betraf, da sie von der neugeschaffenen Organisation ausgeschlossen blieben.
30 Eberhard Kolb, Der Frieden von Versailles, München 2005, 41: „Die Friedensmacher von 1919
(standen) vor einer Aufgabe ohne Beispiel.“
31 Herbert Strauss (Hg.), Botschaften der Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika zur
Außenpolitik 1793—1947 Quellen zur Neueren Geschichte Heft 22—24), Bern 1957, 107.
Von Kriegsschuld war im Vertrag keine Rede, und im Gegensatz zu den seit
den napoleonischen Verträgen üblich gewordenen Gepflogenheiten wurde auf Zah-
lungen als Ersatz für Kriegskosten und Schäden ausdrücklich verzichtet (Art. ^.Erst-
mals in der Geschichte der neuzeitlichen Friedensverträge verpflichtete sich dagegen
ein Vertragspartner, seine Streitkräfte völlig aufzulösen; die Demobilmachung galt
auch für „die von der jetzigen Regierung neugebildeten Heeresteile“, die sog. Rote
Garde. Die russischen Kriegsschiffe sollten „bis zum allgemeinen Friedensschluß“ in
den Häfen bleiben oder gleichfalls sofort abgerüstet werden (Art. 5). In der Sprachen-
frage herrschte Gleichberechtigung — der russische Text war genau so authentisch wie
der deutsche (bzw. ungarische, bulgarische und türkische) Text.
Die rechtliche Ungleichheit der Vertragspartner, die in Brest-Litowsk — und
ebenso im Frieden von Bukarest mit Rumänien — praktiziert wurde, steigerte sich in
den PariserVorortverträgen von 1919/20 noch beträchtlich. Zum erstenmal in der
Geschichte des neuzeitlichen Friedensvertrags fanden keinerlei Verhandlungen zwi-
schen den Vertragschließenden statt — um die Einheit der Siegerkoalition nicht zu
gefährden, durften Einwände gegen den vorgelegten Text nur schriftlich vorgebracht
werden und blieben fast ausnahmslos unberücksichtigt.30 Das Ziel des Versailler Vertrags
mit Deutschland — dieser Vertrag pars pro toto für die anderen Verträge genommen —
war laut Präambel „une Paix solide, juste et durable“. Damit war erstmals in der
Geschichte des neuzeitlichen Friedensvertrags die Gerechtigkeit als politisch-juri-
stisch-moralische Kategorie emgeführt und zur Norm eines Friedensschlusses gemacht
worden. Offenbar ging diese Neuerung auf die amerikanische Politik zurück, denn
Präsident Wilson benutzte in seiner Kongreßrede im Januar 1918, in der er die Vier-
zehn Punkte verkündete, die Formulierung, das Ziel seines Programms sei „a just and
stable peace“.31 Aber auch die französischen Politiker sprachen auf der Friedenskonfe-
renz immer wieder von der Gerechtigkeit, der zum Siege verholten werden müsse.
Eine Invocatio fehlte dem Vertrag, ebenso fehlte die traditionelle, selbst in
Brest-Litowsk nicht verweigerte Versicherung von Frieden und Freundschaft. Statt
ihrer enthielt der Versailler Frieden lediglich die dürre Feststellung, daß mit dem
Inkrafttreten des Vertrags „der Kriegszustand em Ende nimmt“ und „die amtlichen
Beziehungen ... mit Deutschland wieder aufgenommen“ werden — „und mit dem
einen oder anderen der deutschen Staaten“, wie, prospektiv auf eine mögliche Dis-
membration des Bismarckreiches abzielend, hinzugefugt wurde. Ein Novum der
Vorortverträge war, daß zu den Signataren Staaten gehörten, die sich erst nach
Kriegsende gebildet hatten: Polen, Tschechoslowakei, „der serbisch-kroatisch-slowe-
nische Staat“, das nachmalige Jugoslawien. Ebensowenig war es in der bisherigen
Vertragspraxis vorgekommen, daß in den Frieden ein umfangreicher Textteil, die
Völkerbundssatzung, aufgenommen wurde, der die besiegten Unterzeichnerstaaten
gar nicht betraf, da sie von der neugeschaffenen Organisation ausgeschlossen blieben.
30 Eberhard Kolb, Der Frieden von Versailles, München 2005, 41: „Die Friedensmacher von 1919
(standen) vor einer Aufgabe ohne Beispiel.“
31 Herbert Strauss (Hg.), Botschaften der Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika zur
Außenpolitik 1793—1947 Quellen zur Neueren Geschichte Heft 22—24), Bern 1957, 107.