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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2007 — 2007

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I. Das Geschäftsjahr 2007
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Wissenschaftliche Sitzungen
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Sitzung der Phil.-hist. Klasse am 20. April 2007
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Leonhardt, Jürgen: Die alten Sprachen und kein Humanismus - eine historische Bildungswende des Bildungswesens im 19. Jahrhundert
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https://doi.org/10.11588/diglit.66959#0061
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SITZUNGEN

hochschulen, und selbst im Handwerk bleibt, so scheint es, das Gesellenstück kon-
servativ und nimmt die industrielle Entwicklung nicht auf. Es gibt neben dem
Historismus der Artefakte offensichtlich auch einen Historismus der Wissenstradi-
tion — an welchen Stellen und in welchem Umfang, wäre noch zu klären. Die
Konstanz des Lateinunterrichts im 19. Jahrhundert, insbesondere das Festhalten an
aktiver Sprachkompetenz fugt sich in den Rahmen einen solchen umfassenderen
Bildungshistorismus gut ein. Entscheidend war nicht die unmittelbare Vorbildlich-
keit der römischen Welt (deren Literatur deswegen auch zweitrangig sein durfte),
sondern das Sich-Vergewissern der historischen Kulturtechnik durch den Rückgriff
auf Ausbildungsinhalte der Vergangenheit. Zugespitzt könnte man sagen, daß der
Lateinunterricht des humanistischen Gymmasiums gar nicht (wie im Neuhumanis-
mus) primär zur Antike hinführen soll, sondern daß er als historistische Institution
die Lateinschule der deutschen Renaissance aufnimmt, in der Latein eben im Mit-
telpunkt stand.
Die Entwicklung des Lateinunterrichts geschah jedoch auch noch in einem
zweiten Kontext. Sie fällt in die Zeit, in der die Natur- und Technikwissenschaften
immer mehr Gewicht erhalten. Bereits früh im 19. Jahrhundert kristallisiert sich die
Auseinandersetzung zwischen den Vertretern einer realen, die Notwendigkeiten der
neuen gesellschaftlichen Umwelt berücksichtigenden, und den Vertretern der alten
Bildung in vollem Umfang heraus. Die Altphilologie reagiert darauf mit einer
eigentümlichen Wendung: Jetzt erst nämlich wird das Argument, Latem erziehe auf-
grund seiner mechanisch-komplexen Struktur zu logischem Denken, voll ausgebaut.
Uber die Theorie der formalen Bildung ließ sich Latein neu instrumentalisieren als
eine geistige Propädeutik, die der Mathematik (der zweiten wichtigen Leitwissen-
schaft des 19. Jahrhunderts) und den Technikwissenschaften zugute kam. Die zuneh-
mende Konzentration auf sprachreflektorische Arbeit im Lateinunterricht ist gerade
nicht ein Erbe des Neuhumanismus, der sich um Grammatik (abgesehen von der
damals neu aufkommenden historischen Sprachwissenschaft) wenig gekümmert
hatte. Obwohl eine Sprache wie Latein natürlich immer regelbetont gelernt wurde,
war die extreme Konzentration auf die formelhafte Durchdringung der Grammatik
und das Lernen über Theorie, wodurch Lateinsprechen geradezu methodisch
zurückgesetzt wurde, eine didaktische Neuentwicklung, die allein das 19. Jahrhun-
dert charakterisiert, und die offensichtlich dazu eingesetzt wurde, Lateinunterricht
auch gegenüber den Ansprüchen der Mathematik und den Naturwissenschaften als
Grundlage der höheren Bildung zu rechtfertigen. Mit ihr wurde der Sprachhuma-
nismus des frühen 19. Jahrhunderts umgeformt zu einer formalen Bildung, bei der
auf Ästhetik der Sprache und Inhalte der Literatur wenig ankam.
Gerade die Züge, die bis heute als typisch für das Lateinische gelten, seine
„logische“ Struktur, der primär theoretischen Zugang und der unbedingte Glaube
an die formale Bildung durch das Historische, erweisen sich damit als zeitbedingte
Ausformungen. Die Altphilologen des 19. Jahrhundert haben damit - wahrscheinlich
unbewußt - auf eine aktuelle Situation reagiert, und wenn sie es nicht getant hätten,
wäre vermutlich der Lateinunterricht bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun-
derts vom ersten Platz des gymnasialen Fächerkanons verdrängt worden — oder man
 
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