86 | SITZUNGEN
dass ich zunächst versuche, charakteristische Eigenschaften moderner naturwissen-
schaftlicher Forschung zu beschreiben. Es folgt ein Exkurs über Themen, in denen
sich Physik und Philosophie berühren. Schließlich komme ich zur Frage nach den
Gemeinsamkeiten der Wissenschaften und den Unterschieden zwischen ihnen.
Die Physik ist durch die ihr eigenen Methoden außerordentlich stark geprägt.
Im Wechselspiel zwischen Experiment und Theorie wird die sinnlich erfahrbare
Natur umgewandelt in eine rein mathematische Welt der Gleichungen und Zahlen.
Alle anthropomorphen Elemente der Anschauung werden ausgeschieden. Nur was
mathematisch fassbar ist, ist wissenschaftlich relevant. Dieses methodische Korsett ist
außerordentlich kräftig. Es definiert den Rahmen, in dem physikalische Forschung
stattfindet, und strukturiert von vornherein die Wege der Forschung.
Eine unmittelbare Folge dieser starken methodischen Prägung der Physik und
der Naturwissenschaften überhaupt ist ihre Exportfähigkeit. Die Methode der
Naturwissenschaft ist wie em Handwerk. Wie ein solches lässt sie sich erlernen. In
allen wirtschaftlich einigermaßen entwickelten Ländern finden sich darum Natur-
wissenschaftler, die mit den gleichen Methoden an ähnlichen Fragen arbeiten wie
jene in Europa und den USA. Dass sich Naturwissenschaft wie em Handwerk erler-
nen lässt, gilt allerdings mit einer Einschränkung. Am Beginn jeder Forschungsarbeit
steht die Wahl des Themas. Der Forscher muss entscheiden, welche unter den fast
unendlich vielen möglichen die interessanten, vielversprechenden und weiter-
führenden Fragen sind. Allem ihnen sollte sein Interesse gelten. Es gibt zwar allge-
meine Relevanzkriterien, aber beim Vorstoß ins wissenschaftliche Neuland muss
jeder seine Community vom Interesse und vom Wert seiner Forschung überzeugen.
Dafür gibt es naturgemäß keine festen Regeln. Stattdessen braucht es Erfahrung,
Phantasie, Intuition und Urteilsvermögen. Die sind aber viel schwerer zu erlernen
als die naturwissenschaftliche Methode selbst. Sie sind am stärksten kulturgebunden
in dem Sinne, dass exzellente Forschung typisch in exzellenten Gruppen tradiert
wird. Es ist kein Zufall, dass viele Nobelpreisträger Schüler von Nobelpreisträgern
sind.
Die heutige physikalisch-naturwissenschaftliche Forschung ist hochspeziali-
siert. Ihre Fragestellungen ergeben sich nicht aus der Betrachtung der historischen
Entwicklung des Gebietes, sondern aus der Reflexion über die jüngst erhaltenen
Ergebnisse. Ein Rückblick auf die historische Entwicklung ist überflüssig und für
den einzelnen Forscher in der Regel sogar hinderlich, weil sie vom Thema ablenkt.
Der ständige Wettstreit mit anderen, die am gleichen Thema arbeiten, und die
immerwährende Notwendigkeit, Geld für die eigene Forschung einzuwerben, setzen
den einzelnen Forscher unter ständigen und erheblichen Druck. Der lässt dem For-
scher kaum Zeit, sich über die größeren Zusammenhänge klar zu werden, in denen
seine eigene Arbeit steht, von Kontakten zu anderen Teilen der Natur- oder gar der
Sozial- und Geisteswissenschaften ganz zu schweigen. Im Wettstreit um wissen-
schaftliche Anerkennung zählen nur neue Ideen, methodische Fortschritte, und neue
Ergebnisse. Das schließt natürlich nicht aus, dass einzelne Forscher sich — sozusagen
in ihrer Freizeit — für geistes- oder sozialwissenschaftliche Themen interessieren, aber
ein solches Interesse gilt als Privatvergnügen und ist für die Anerkennung und
dass ich zunächst versuche, charakteristische Eigenschaften moderner naturwissen-
schaftlicher Forschung zu beschreiben. Es folgt ein Exkurs über Themen, in denen
sich Physik und Philosophie berühren. Schließlich komme ich zur Frage nach den
Gemeinsamkeiten der Wissenschaften und den Unterschieden zwischen ihnen.
Die Physik ist durch die ihr eigenen Methoden außerordentlich stark geprägt.
Im Wechselspiel zwischen Experiment und Theorie wird die sinnlich erfahrbare
Natur umgewandelt in eine rein mathematische Welt der Gleichungen und Zahlen.
Alle anthropomorphen Elemente der Anschauung werden ausgeschieden. Nur was
mathematisch fassbar ist, ist wissenschaftlich relevant. Dieses methodische Korsett ist
außerordentlich kräftig. Es definiert den Rahmen, in dem physikalische Forschung
stattfindet, und strukturiert von vornherein die Wege der Forschung.
Eine unmittelbare Folge dieser starken methodischen Prägung der Physik und
der Naturwissenschaften überhaupt ist ihre Exportfähigkeit. Die Methode der
Naturwissenschaft ist wie em Handwerk. Wie ein solches lässt sie sich erlernen. In
allen wirtschaftlich einigermaßen entwickelten Ländern finden sich darum Natur-
wissenschaftler, die mit den gleichen Methoden an ähnlichen Fragen arbeiten wie
jene in Europa und den USA. Dass sich Naturwissenschaft wie em Handwerk erler-
nen lässt, gilt allerdings mit einer Einschränkung. Am Beginn jeder Forschungsarbeit
steht die Wahl des Themas. Der Forscher muss entscheiden, welche unter den fast
unendlich vielen möglichen die interessanten, vielversprechenden und weiter-
führenden Fragen sind. Allem ihnen sollte sein Interesse gelten. Es gibt zwar allge-
meine Relevanzkriterien, aber beim Vorstoß ins wissenschaftliche Neuland muss
jeder seine Community vom Interesse und vom Wert seiner Forschung überzeugen.
Dafür gibt es naturgemäß keine festen Regeln. Stattdessen braucht es Erfahrung,
Phantasie, Intuition und Urteilsvermögen. Die sind aber viel schwerer zu erlernen
als die naturwissenschaftliche Methode selbst. Sie sind am stärksten kulturgebunden
in dem Sinne, dass exzellente Forschung typisch in exzellenten Gruppen tradiert
wird. Es ist kein Zufall, dass viele Nobelpreisträger Schüler von Nobelpreisträgern
sind.
Die heutige physikalisch-naturwissenschaftliche Forschung ist hochspeziali-
siert. Ihre Fragestellungen ergeben sich nicht aus der Betrachtung der historischen
Entwicklung des Gebietes, sondern aus der Reflexion über die jüngst erhaltenen
Ergebnisse. Ein Rückblick auf die historische Entwicklung ist überflüssig und für
den einzelnen Forscher in der Regel sogar hinderlich, weil sie vom Thema ablenkt.
Der ständige Wettstreit mit anderen, die am gleichen Thema arbeiten, und die
immerwährende Notwendigkeit, Geld für die eigene Forschung einzuwerben, setzen
den einzelnen Forscher unter ständigen und erheblichen Druck. Der lässt dem For-
scher kaum Zeit, sich über die größeren Zusammenhänge klar zu werden, in denen
seine eigene Arbeit steht, von Kontakten zu anderen Teilen der Natur- oder gar der
Sozial- und Geisteswissenschaften ganz zu schweigen. Im Wettstreit um wissen-
schaftliche Anerkennung zählen nur neue Ideen, methodische Fortschritte, und neue
Ergebnisse. Das schließt natürlich nicht aus, dass einzelne Forscher sich — sozusagen
in ihrer Freizeit — für geistes- oder sozialwissenschaftliche Themen interessieren, aber
ein solches Interesse gilt als Privatvergnügen und ist für die Anerkennung und