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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2007 — 2007

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I. Das Geschäftsjahr 2007
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Wissenschaftliche Sitzungen
DOI Kapitel:
Gesamtsitzung am 21. Juli 2007
DOI Artikel:
Weidenmüller, Hans-Arwed: Beitrag zur Diskussion "Ist Geisteswissenschaft Wissenschaft?"
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.66959#0075
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88 | SITZUNGEN

Postulate eines absoluten Raumes und einer absoluten Zeit nicht zu halten waren,
und dass Raum und Zeit Formen der Erfahrung sind. Hier sind sich Physik und
Erkenntnistheorie wieder nähergekommen als in den letzten Jahrhunderten. Em
anderes großes Thema jener Tage war der Wettstreit zwischen Induktion und Deduk-
tion als Wegen zur Gewinnung physikalischer Gesetzmäßigkeiten, wie er insbeson-
dere von Nernst, Planck und Einstein ausgetragen wurde. Mit Ludwig Boltzmanns
statistischer Physik drang der Begriff der Wahrscheinlichkeit in die Physik em und
löste eine erbitterte Debatte aus. Denn oberstes Ziel der Physik war es doch bis dahin
gewesen, die Naturphänomene als aus den Naturgesetzen zwangsläufig folgend zu
verstehen. Welche Rolle konnte der Zufall in diesem Rahmen spielen? Und wie sind
Determinismus, Kausalität und Wahrscheinlichkeit miteinander zu verbinden oder
voneinander zu trennen? Diese Fragen, die insbesondere Max Planck heftig umge-
trieben haben, sind mit dem Aufschwung der Chaosforschung in den letzten 30 Jah-
ren wieder aktuell geworden. Mit der Ausformulierung der Quantentheorie traten
neue Schwierigkeiten auf, die zu erkenntnistheoretischen Fragen führten. Die sind
in der sogenannten Kopenhagener Interpretation der Quantenmechanik behandelt
und beantwortet worden. Neben dem Auftreten eines neuen Begriffs der Wahr-
scheinlichkeit betreffen sie die Eigenschaften eines physikalischen Systems. Lage und
Geschwindigkeit eines quantenmechanischen Teilchens sind nicht mehr Eigenschaf-
ten im herkömmlichen Sinne dieses Wortes, denn die Kenntnis des einen schließt die
Kenntnis des anderen aus.
Auch der Reduktionismus hat in diesen Debatten eine Rolle gespielt. Es han-
delt sich, grob gesprochen, um die Frage, ob die Kenntnis der Grundgesetze der
Physik, idealiter zusammengefasst in einer Art Weltformel, es erlaubt, die Eigen-
schaften jedes physikalischen Systems zu berechnen.
Natürlich ist Physik immer reduktionistisch in dem Sinn, dass Phänomene auf
gemeinsame Grundgesetzmäßigkeiten reduziert werden. Dissens besteht aber dar-
über, ob es verschiedene, voneinander getrennte Ebenen der Komplexität und des
Verstehens gibt derart, dass eine Reduktion physikalischer Phänomene auf Grund-
gesetze zwar innerhalb der jeweils relevanten Ebene möglich ist, dass diese Grund-
gesetze sich aber nicht aus jenen der Ebene nächstniedrigerer Komplexität ableiten
lassen. Die Vertreter dieses Standpunktes sprechen dann von emergenten Naturge-
setzen. Der Streit dauert an und hat in jüngerer Zeit auch forschungspolitisch
bedeutsame Folgen gehabt. Der in Texas geplante und bereits begonnene Bau des
superconducting supercolliders war aus verschiedenen Gründen in die Kritik gera-
ten und wurde im Kongress der USA von seinen Befürwortern auch mit dem
reduktionistischen Argument verteidigt, hier werde em Gerät gebaut, das uns der
Weltformel em Stück näherbringe. Dagegen erhob sich auf Seiten der Gegner die-
ses Projekts, ebenfalls Physikern, Protest in dem Sinne, dass der superconducting
supercolhder zwar für die Erforschung der Elementarteilchen von großer Bedeutung
sein, dass die damit gewonnen Ergebnisse und Einsichten aber für andere Teile der
Physik völlig bedeutungslos sein und bleiben würden. Dieser Streit innerhalb der
Physik hat mit dazu beigetragen, dass der Bau eingestellt wurde und der Beschleu-
niger unvollendet blieb.
 
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