Das WIN-Kolleg
299
Exemplarisch gebündelt wurden und werden die Forschungsaktivitäten (durch Ste-
fan Seit, Susanne Kurz und Daniel Götzen) in Gestalt der disziplinär übergreifenden
kulturvergleichenden Untersuchung des Status religiöser Wahrheiten und Wahr-
heitsansprüche, ihrer politischen Bedeutung und Reichweite, von Toleranzmodellen
und Konzeptionen individueller (Gewissens-) Freiheit im lateinischen Christentum
und im Islam, und zwar sowohl unter einem diachronen als auch unter einem syn-
chronen Aspekt. Erste Ergebnisse konnten im Kontext der Aktivitäten der Akademie
zum „Jahr der Geisteswissenschaften“ ebenso wie im Rahmen der Mitarbeiterreihe
der Akademie einer breiteren Öffentlichkeit vorgestellt werden: In kritischer Aus-
einandersetzung mit der These, monotheistische Religionen seien als solche
grundsätzlich gewaltaffin, ist zunächst in Frage zu stellen, ob die drei rezenten
Monotheismen als Grundlage für derart weit reichende allgemeine Aussagen hm-
reichen. Judentum, Christentum und Islam sind überdies einerseits eng verwandt,
andererseits haben Christentum und Islam ihre Lehren und Organisationsformen
unter völlig verschiedenen historischen Umständen begründet, weiterentwickelt und
ausgestaltet — mit weitreichenden Konsequenzen für die Profile der beiden Religio-
nen: Während die Christen anfangs eine Minderheit gewesen sind — sogar eine Min-
derheit innerhalb einer Minderheit — und, konfrontiert mit einer etablierten Kultur
mit elaborierter Staatlichkeit und einer polytheistisch-funktionalen Staatsreligion,
dann aber an deren Stelle gerückt und mit der bestehenden Kultur verschmolzen
sind, wird der Islam bereits in seiner formativen Phase politisch. Die Verhältnisse zur
antiken Kultur und zu anderen Religionen sind je völlig verschiedene, - schon allein
deshalb, weil das Christentum, das das antike Heidentum ebenso wie das Judentum
in seine eigene heilsgeschichtliche Vorgeschichte integriert, lange Zeit keine i. e. S.
‘anderen’ Religionen kennt — und nicht einmal den Islam als solche wahrnimmt.
Wenn diese beiden Religionen dazu neigen, intolerant mit internem und externem
Dissens umzugehen, dann geschieht dies deshalb aus je eigenen historischen Grün-
den. Was das Christentum angeht, gibt es v. a. für die Intoleranz anscheinend reich-
lich Beispiele, etwa das Verhalten der mittelalterlichen lateinischen Kirche gegenüber
Häretikern, d.h. internen Abweichlern. Gleichwohl bietet die christliche Tradition
auch Belege für ein anspruchsvolles Verständnis der letztinstanzlichen Entschei-
dungshoheit des einzelnen Menschen, nämlich für das Konzept des Gewissens und
der Gewissensfreiheit. Dieses Konzept tritt durchaus nicht erst in der Neuzeit oder
sogar erst im Horizont aufklärerischer Religionskritik auf, sondern hegt in engstem
zeitlichem und kontextuellem Zusammenhang mit der Bekämpfung von Häretikern
bereits vollausgebildet vor. Letztlich wurzelt es in der dem Christentum von seinen
Anfängen her eingeschriebenen Grundkonstitution, für die namentlich auch der
Aspekt der individuellen, frei vollzogenen Umkehr fundamental ist. Dieser Zusam-
menhang läßt sich etwa am Beispiel des von Thomas von Aquin entwickelten
Verständnisses des Gewissens und seiner unbedingten Autorität aufzeigen;Thomas’
Konzept wird noch im 17. Jh., in den Zeiten der heftigen und teilweise höchst
gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen den christlichen Konfessionen um
deren Wahrheit, auch auf evangelischer Seite ganz selbstverständlich herangezogen,
um die Idee von konfessioneller (nicht aber zugleich auch religiöser) Toleranz
299
Exemplarisch gebündelt wurden und werden die Forschungsaktivitäten (durch Ste-
fan Seit, Susanne Kurz und Daniel Götzen) in Gestalt der disziplinär übergreifenden
kulturvergleichenden Untersuchung des Status religiöser Wahrheiten und Wahr-
heitsansprüche, ihrer politischen Bedeutung und Reichweite, von Toleranzmodellen
und Konzeptionen individueller (Gewissens-) Freiheit im lateinischen Christentum
und im Islam, und zwar sowohl unter einem diachronen als auch unter einem syn-
chronen Aspekt. Erste Ergebnisse konnten im Kontext der Aktivitäten der Akademie
zum „Jahr der Geisteswissenschaften“ ebenso wie im Rahmen der Mitarbeiterreihe
der Akademie einer breiteren Öffentlichkeit vorgestellt werden: In kritischer Aus-
einandersetzung mit der These, monotheistische Religionen seien als solche
grundsätzlich gewaltaffin, ist zunächst in Frage zu stellen, ob die drei rezenten
Monotheismen als Grundlage für derart weit reichende allgemeine Aussagen hm-
reichen. Judentum, Christentum und Islam sind überdies einerseits eng verwandt,
andererseits haben Christentum und Islam ihre Lehren und Organisationsformen
unter völlig verschiedenen historischen Umständen begründet, weiterentwickelt und
ausgestaltet — mit weitreichenden Konsequenzen für die Profile der beiden Religio-
nen: Während die Christen anfangs eine Minderheit gewesen sind — sogar eine Min-
derheit innerhalb einer Minderheit — und, konfrontiert mit einer etablierten Kultur
mit elaborierter Staatlichkeit und einer polytheistisch-funktionalen Staatsreligion,
dann aber an deren Stelle gerückt und mit der bestehenden Kultur verschmolzen
sind, wird der Islam bereits in seiner formativen Phase politisch. Die Verhältnisse zur
antiken Kultur und zu anderen Religionen sind je völlig verschiedene, - schon allein
deshalb, weil das Christentum, das das antike Heidentum ebenso wie das Judentum
in seine eigene heilsgeschichtliche Vorgeschichte integriert, lange Zeit keine i. e. S.
‘anderen’ Religionen kennt — und nicht einmal den Islam als solche wahrnimmt.
Wenn diese beiden Religionen dazu neigen, intolerant mit internem und externem
Dissens umzugehen, dann geschieht dies deshalb aus je eigenen historischen Grün-
den. Was das Christentum angeht, gibt es v. a. für die Intoleranz anscheinend reich-
lich Beispiele, etwa das Verhalten der mittelalterlichen lateinischen Kirche gegenüber
Häretikern, d.h. internen Abweichlern. Gleichwohl bietet die christliche Tradition
auch Belege für ein anspruchsvolles Verständnis der letztinstanzlichen Entschei-
dungshoheit des einzelnen Menschen, nämlich für das Konzept des Gewissens und
der Gewissensfreiheit. Dieses Konzept tritt durchaus nicht erst in der Neuzeit oder
sogar erst im Horizont aufklärerischer Religionskritik auf, sondern hegt in engstem
zeitlichem und kontextuellem Zusammenhang mit der Bekämpfung von Häretikern
bereits vollausgebildet vor. Letztlich wurzelt es in der dem Christentum von seinen
Anfängen her eingeschriebenen Grundkonstitution, für die namentlich auch der
Aspekt der individuellen, frei vollzogenen Umkehr fundamental ist. Dieser Zusam-
menhang läßt sich etwa am Beispiel des von Thomas von Aquin entwickelten
Verständnisses des Gewissens und seiner unbedingten Autorität aufzeigen;Thomas’
Konzept wird noch im 17. Jh., in den Zeiten der heftigen und teilweise höchst
gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen den christlichen Konfessionen um
deren Wahrheit, auch auf evangelischer Seite ganz selbstverständlich herangezogen,
um die Idee von konfessioneller (nicht aber zugleich auch religiöser) Toleranz