II. Wissenschaftliche Vorträge
als eine Tochterreligion der jüdischen Mutterreligion begriffen wurde und damit
implizit als moderner und zeitgemäßer als das Judentum, waren nun rabbinisches
und nichtrabbinisches antikes Judentum und antikes Christentum gemeinsame
Kinder des Judentums in hellenistischer Zeit - wenn überhaupt solche Verwandt-
schaftsmetaphern in der Religionsgeschichte eine brauchbare Kategorie sein soll-
ten. In jüngster Zeit ist noch einmal deutlicher geworden, wie wenig die aufeinan-
der bezogenen gemeinsamen Entwicklungsdynamiken antiker religiöser Gruppen in den
Blick treten, wenn eine Metaphorik der Weggabelung zugrundegelegt wird. Das
wird am jüdischen wie christlichen Festkalender exemplarisch deutlich. Man fasst
dieses neue Bild von einer langen gemeinsamen Geschichte, die erst in der Spätan-
tike endgültig auseinandertritt, gegenwärtig gern mit einem englischen Buchtitel
des Jahres 2003 zusammen: „the ways that never parted“, zu Deutsch etwa „die
Wege, die niemals auseinander führten“.
Diese neue Kartographierung der antiken Religionsgeschichte hat aber er-
hebliche Folgen für das Bild der sogenannten Gnosis. Der Ausdruck „Gnosis“ ist
ein frühneuzeitliches Kunstwort der Religionswissenschaft, das auf den von Plato
gebildeten griechischen Begriff „Gnostiker“ zurückgeht. Bei christlichen Autoren
des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts wurde er erstmals für Mitglieder einer
abgrenzbaren Gruppe verwendet; der Grund, warum man diesen Begriff auf eine
Gruppe von Menschen applizierte, ist leider nicht klar - „Gnosis“, also „Erkennt-
nis“, zu haben, ist kein wirkliches distinktes Charakteristikum, das die einen Men-
schen von anderen Menschen unterscheidet. Aus heutiger kritischer Perspektive
scheinen solche Gruppen, die sich gelegentlich selbst mit dem Terminus bezeich-
nen, durch unterschiedliche religiös-philosophische Systembildungen charakteri-
siert, die gemeinsame Elemente aufweisen und die die biblischen Geschichten von
Weltentstehung, Schöpfung, Fall und Erlösung mit philosophischen Kunstmythen
nach Rationalitätskriterien ihrer Zeit begreifen wollen.
Im Vortrag wurde die These vertreten und begründet, dass die neue Kartie-
rung der Religionsgeschichte, die das Stichwort „the ways that never parted“ an-
zeigt, auch helfen kann, einen klassischen Streit in der Forschungsgeschichte über
diese Gruppen zu schlichten. Es wurde nämlich immer debattiert, ob es sich um
ein jüdisches, christliches oder paganes Phänomen handelt. Auch der Vortragen-
de hat sich zu Beginn seiner akademischen Karriere mit seiner Dissertation auf
eine Seite geschlagen und dafür votiert, die Gnosis als christliches Phänomen zu
interpretieren. Allerdings existieren neben erkennbar christlichen Texten, in de-
nen das Geschick Jesu von Nazareth eine zentrale Rolle spielt, auch Schriften, die
wesentlich stärker vom zeitgenössischen Judentum, beispielsweise seiner Engel-
und Dämonenlehre, geprägt sind. Mit der Zeit lösen sich die Bewegungen auch
von der christlichen Mehrheitskirche, die sie als häretisch ausgrenzt, und wirken
dadurch „paganer“.
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als eine Tochterreligion der jüdischen Mutterreligion begriffen wurde und damit
implizit als moderner und zeitgemäßer als das Judentum, waren nun rabbinisches
und nichtrabbinisches antikes Judentum und antikes Christentum gemeinsame
Kinder des Judentums in hellenistischer Zeit - wenn überhaupt solche Verwandt-
schaftsmetaphern in der Religionsgeschichte eine brauchbare Kategorie sein soll-
ten. In jüngster Zeit ist noch einmal deutlicher geworden, wie wenig die aufeinan-
der bezogenen gemeinsamen Entwicklungsdynamiken antiker religiöser Gruppen in den
Blick treten, wenn eine Metaphorik der Weggabelung zugrundegelegt wird. Das
wird am jüdischen wie christlichen Festkalender exemplarisch deutlich. Man fasst
dieses neue Bild von einer langen gemeinsamen Geschichte, die erst in der Spätan-
tike endgültig auseinandertritt, gegenwärtig gern mit einem englischen Buchtitel
des Jahres 2003 zusammen: „the ways that never parted“, zu Deutsch etwa „die
Wege, die niemals auseinander führten“.
Diese neue Kartographierung der antiken Religionsgeschichte hat aber er-
hebliche Folgen für das Bild der sogenannten Gnosis. Der Ausdruck „Gnosis“ ist
ein frühneuzeitliches Kunstwort der Religionswissenschaft, das auf den von Plato
gebildeten griechischen Begriff „Gnostiker“ zurückgeht. Bei christlichen Autoren
des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts wurde er erstmals für Mitglieder einer
abgrenzbaren Gruppe verwendet; der Grund, warum man diesen Begriff auf eine
Gruppe von Menschen applizierte, ist leider nicht klar - „Gnosis“, also „Erkennt-
nis“, zu haben, ist kein wirkliches distinktes Charakteristikum, das die einen Men-
schen von anderen Menschen unterscheidet. Aus heutiger kritischer Perspektive
scheinen solche Gruppen, die sich gelegentlich selbst mit dem Terminus bezeich-
nen, durch unterschiedliche religiös-philosophische Systembildungen charakteri-
siert, die gemeinsame Elemente aufweisen und die die biblischen Geschichten von
Weltentstehung, Schöpfung, Fall und Erlösung mit philosophischen Kunstmythen
nach Rationalitätskriterien ihrer Zeit begreifen wollen.
Im Vortrag wurde die These vertreten und begründet, dass die neue Kartie-
rung der Religionsgeschichte, die das Stichwort „the ways that never parted“ an-
zeigt, auch helfen kann, einen klassischen Streit in der Forschungsgeschichte über
diese Gruppen zu schlichten. Es wurde nämlich immer debattiert, ob es sich um
ein jüdisches, christliches oder paganes Phänomen handelt. Auch der Vortragen-
de hat sich zu Beginn seiner akademischen Karriere mit seiner Dissertation auf
eine Seite geschlagen und dafür votiert, die Gnosis als christliches Phänomen zu
interpretieren. Allerdings existieren neben erkennbar christlichen Texten, in de-
nen das Geschick Jesu von Nazareth eine zentrale Rolle spielt, auch Schriften, die
wesentlich stärker vom zeitgenössischen Judentum, beispielsweise seiner Engel-
und Dämonenlehre, geprägt sind. Mit der Zeit lösen sich die Bewegungen auch
von der christlichen Mehrheitskirche, die sie als häretisch ausgrenzt, und wirken
dadurch „paganer“.
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