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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2018 — 2019

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A. Das akademische Jahr 2018
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II. Wissenschaftliche Vorträge
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Männlein-Robert, Irmgard: Die Tübinger Theosophie: vom Zufall der Überlieferung oder spätantike Orakel im Kontext
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https://doi.org/10.11588/diglit.55650#0051
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Irmgard Männlein-Robert

Haus hatte in seiner Abschrift diesen Text mit dem Titel Xprp|ioi tcöv EXXrjviKtöv
0ECÖV (Orakelsprüche der griechischen Götter) versehen. Allerdings lässt sich dieser Ti-
tel bereits für die (jetzt verlorene) Sammelhandschrift Codex Argentoratensis gr. IX
nachweisen, so dass er entweder der Untertitel des ersten Buches des ursprüng-
lichen Werkes war oder diese Formulierung aus dem Eingang der Schrift (TüTh
§ 1 Z. 6) bereits dem byzantinischen Exzerptor als Überschrift aussagekräftig zu
sein schien. Tatsächlich lautete aber der Titel zumindest des ersten, am ausführ-
lichsten exzerpierten Buches des ursprünglich vier Bände umfassenden Textes
0£ooo(pia (Theosophia) - wie der Exzerptor gleich im Eingang des Prooimions ver-
merkt (TüTh § 1 Z. 1—2). Der Titel Theosophia wird daher der aktuellen communis
opinio entsprechend für den gesamten, ursprünglich vierbändigen Text des uns un-
bekannten christlichen Verfassers (ca. um 500 n. Chr.), die Bezeichnung Tübinger
Theosophie dagegen für das in Abschrift in Tübingen verwahrte byzantinische Ex-
zerpt desselben verwendet.
Wie der ursprüngliche Titel Theosophia deutlich macht, geht es hier um Wissen,
das durch (einen) Gott oder durch göttliche Texte inspiriert ist, also um Weisheit
göttlicher Provenienz resp. Offenbarungswissen. Der Verfasser erfährt seine Inspi-
ration aus Schriften, die göttliche Weisheit kolportieren, und zwar, das ist wichtig,
ungeachtet deren Provenienz. Im Prooimion legitimiert er seine Strategie, nicht-
christliche und christliche „Theosophie“ zusammenzudenken und - natürlich im
christlichen Sinne - zu interpretieren, indem er sich über Zitate auf den Philoso-
phen Platon und das alttestamentarische Buch Sapientia beruft. Eben diese beiden
Autoritäten beschreiben programmatisch die platonisch-jüdischen Koordinaten
des intellektuellen Feldes, in dem sich der christliche Verfasser mit seiner Theo-
sophia bewegt. Vor dem Hintergrund der seit dem frühen Christentum geführten
Diskussion, inwiefern und ob überhaupt pagane Texte eine Rolle für die christli-
che Erziehung und Bildung spielen sollten und dürften, ist die der hellenischen
Bildungstradition aufgeschlossene Haltung des christlichen Theosophia-Verfassers
beachtenswert: Denn er nimmt in seine Schrift nicht nur Sentenzen oder kleine
Episoden weiser Hellenen auf, sondern zitiert und erläutert nicht zuletzt pagane
Orakel. Das ist deshalb so bemerkenswert, als Orakelbefragungen in nicht-christ-
lichen Kreisen bis in die Spätantike hinein zwar etabliert waren, die Anhänger des
Christentums seit der Kaiserzeit jedoch derartige traditionelle religiöse Praktiken
in der Mehrheit zumindest offiziell strikt ablehnten.
In der Tübinger Theosophie werden aber nicht nur die Stimmen des Verfassers
und des Exzerptors vernehmlich, sondern zahlreiche weitere: In der ersten Hälfte
(§§ 12—54) werden vor allem pagane Orakelgötter als Sprachrohre letztlich christ-
lichen theosophischen Wissens instrumentalisiert sowie weitere bekannte Weise,
meist Philosophen, zitiert oder zu Protagonisten kleiner Episoden gemacht, z. B.
Moses, Platon, Orpheus, Sokrates, Porphyrios, Heraklit, Sibylle(n) etc. Am Ende
des Exzerptes finden sich einschlägige Dichterzitate, z. B. aus Euripides und Me-

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