III. Veranstaltungen
chiatrischen Publikationen ist die Dissertation Heimweh und Verbrechen ein Stief-
kind der Jaspers-Forschung. Zum Teil kann diese Vernachlässigung Jaspers selbst
zugeschrieben werden. In seinen späteren Arbeiten verwies er nur selten und mit
Zurückhaltung auf sein Erstlingswerk. Das liegt nicht nur an dem Thema, das am
Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts in medizinischen Kreisen kaum diskutiert
wurde. Aus dem Briefwechsel mit seiner Familie geht hervor, dass er schon bald
nach der Verteidigung seiner Doktorarbeit von dieser Abstand nahm. Er betrachte-
te sie als eine bloße - noch dazu missratene - Pflichtübung. Dennoch nahm er im
Jahre 1963, als er als anerkannter Philosoph seineJugendschriften unter dem Titel
Gesammelte Schriften zur Psychopathologie in einem geschlossenen Band neu veröf-
fentlichte, die Doktorarbeit ohne Bedenken in die Aufsatzsammlung auf, wodurch
er ihr gleichzeitig einen psychopathologischen Wert zuerkannte.
Mit ungeahnter Voraussicht schrieb Jaspers in seiner Dissertation, dass diese
für den künftigen Psychiatriehistoriker von Interesse sein werde. Er bezog sich
dabei auf den ersten Teil seiner Arbeit, der die Geschichte des medizinischen
Fleimweh-Diskurses von den Anfängen im 17. Jahrhundert bis zur zeitgenössi-
schen Debatte rekonstruiert. Der historische Vorspann ist jedoch für den heuti-
gen Medizinhistoriker durchaus belanglos. Neben den abgenutzten Klischees der
positivistischen Historiographie - die Geschichte des Heimwehs sei nach Jaspers
mehr eine Geschichte von Irrtümern als die Geschichte haltbarer Anschauungen
- häufen sich hier aus der Sekundärliteratur mitgeschleppte Fehler und Nachläs-
sigkeiten, die darauf schließen lassen, dass Jaspers den Großteil der zitierten Quel-
len nie selbst in der Hand hatte. Der medizinhistorische Wert dieser Arbeit ist
ein anderer. Einerseits ist Jaspers’ Schwellenposition im (gerichts)medizinischen
Diskurs zum Heimweh von Interesse. Während er stellenweise bemüht ist, das
Heimweh noch als eine (gesonderte) Krankheit erscheinen zu lassen, ordnet er es
im Grunde schon den bloßen „Verstimmungen“ zu. Diese Zwiespältigkeit schlägt
sich auch auf die Zurechnungsfähigkeit der angeklagten Dienstmädchen nieder,
die nach Jaspers in einigen Fällen sicher, in anderen Fällen nur höchstwahrschein-
lich ausgeschlossen werden muss. Gerade diese Ambiguität wurde von Jaspers’
Doktorvater, dem Direktor der Heidelberger Psychiatrischen Klinik Franz Nissl,
kritisch beurteilt - was ihn jedoch nicht davon abhielt, Jaspers für seine Disserta-
tion die Höchstnote zu geben. Andererseits - und dies ist werkgeschichtlich von
Bedeutung - hat sich Jaspers hier erstmals mit der Übermittlung psychiatrischen
Wissens und mit der Verfassung von Fallgeschichten auseinandergesetzt, ein The-
ma, das er in den verschiedenen Auflagen der Allgemeinen Psychopathologie, seinem
psychiatrischen Hauptwerk, immer wieder thematisierte.
Ursprünglich hätte das Dissertationsthema das „Verhalten des Blutdrucks bei
Geisteskranken“ sein sollen. Bald waren jedoch dem Doktoranden die epistemi-
schen Grenzen einer solchen Studie - damals sprach man von „Kurvenpsychiatrie“
— klar geworden: Die Methode zahlreicher regelmäßiger Messungen, die in der
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chiatrischen Publikationen ist die Dissertation Heimweh und Verbrechen ein Stief-
kind der Jaspers-Forschung. Zum Teil kann diese Vernachlässigung Jaspers selbst
zugeschrieben werden. In seinen späteren Arbeiten verwies er nur selten und mit
Zurückhaltung auf sein Erstlingswerk. Das liegt nicht nur an dem Thema, das am
Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts in medizinischen Kreisen kaum diskutiert
wurde. Aus dem Briefwechsel mit seiner Familie geht hervor, dass er schon bald
nach der Verteidigung seiner Doktorarbeit von dieser Abstand nahm. Er betrachte-
te sie als eine bloße - noch dazu missratene - Pflichtübung. Dennoch nahm er im
Jahre 1963, als er als anerkannter Philosoph seineJugendschriften unter dem Titel
Gesammelte Schriften zur Psychopathologie in einem geschlossenen Band neu veröf-
fentlichte, die Doktorarbeit ohne Bedenken in die Aufsatzsammlung auf, wodurch
er ihr gleichzeitig einen psychopathologischen Wert zuerkannte.
Mit ungeahnter Voraussicht schrieb Jaspers in seiner Dissertation, dass diese
für den künftigen Psychiatriehistoriker von Interesse sein werde. Er bezog sich
dabei auf den ersten Teil seiner Arbeit, der die Geschichte des medizinischen
Fleimweh-Diskurses von den Anfängen im 17. Jahrhundert bis zur zeitgenössi-
schen Debatte rekonstruiert. Der historische Vorspann ist jedoch für den heuti-
gen Medizinhistoriker durchaus belanglos. Neben den abgenutzten Klischees der
positivistischen Historiographie - die Geschichte des Heimwehs sei nach Jaspers
mehr eine Geschichte von Irrtümern als die Geschichte haltbarer Anschauungen
- häufen sich hier aus der Sekundärliteratur mitgeschleppte Fehler und Nachläs-
sigkeiten, die darauf schließen lassen, dass Jaspers den Großteil der zitierten Quel-
len nie selbst in der Hand hatte. Der medizinhistorische Wert dieser Arbeit ist
ein anderer. Einerseits ist Jaspers’ Schwellenposition im (gerichts)medizinischen
Diskurs zum Heimweh von Interesse. Während er stellenweise bemüht ist, das
Heimweh noch als eine (gesonderte) Krankheit erscheinen zu lassen, ordnet er es
im Grunde schon den bloßen „Verstimmungen“ zu. Diese Zwiespältigkeit schlägt
sich auch auf die Zurechnungsfähigkeit der angeklagten Dienstmädchen nieder,
die nach Jaspers in einigen Fällen sicher, in anderen Fällen nur höchstwahrschein-
lich ausgeschlossen werden muss. Gerade diese Ambiguität wurde von Jaspers’
Doktorvater, dem Direktor der Heidelberger Psychiatrischen Klinik Franz Nissl,
kritisch beurteilt - was ihn jedoch nicht davon abhielt, Jaspers für seine Disserta-
tion die Höchstnote zu geben. Andererseits - und dies ist werkgeschichtlich von
Bedeutung - hat sich Jaspers hier erstmals mit der Übermittlung psychiatrischen
Wissens und mit der Verfassung von Fallgeschichten auseinandergesetzt, ein The-
ma, das er in den verschiedenen Auflagen der Allgemeinen Psychopathologie, seinem
psychiatrischen Hauptwerk, immer wieder thematisierte.
Ursprünglich hätte das Dissertationsthema das „Verhalten des Blutdrucks bei
Geisteskranken“ sein sollen. Bald waren jedoch dem Doktoranden die epistemi-
schen Grenzen einer solchen Studie - damals sprach man von „Kurvenpsychiatrie“
— klar geworden: Die Methode zahlreicher regelmäßiger Messungen, die in der
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