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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2018 — 2019

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A. Das akademische Jahr 2018
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III. Veranstaltungen
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Böhme, Hartmut: Zufall in der Geschichte – Geschichte des Zufalls
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https://doi.org/10.11588/diglit.55650#0112
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III. Veranstaltungen

Entdeckungsgeschichte der Ambivalenz. Sogar der christliche Philosoph Boethius
kennt noch die Fortuna bifrons. Es ist eine alte Erfahrung, dass das Elin und Her, das
Auf und Ab des Lebens weder gewusst noch beherrscht werden kann.
Es versteht sich, dass auf diesem ungewissen Feld kein Raum für eine Ver-
dienstethik ist. Darum heißt es von der Fortuna bei Ovid:
Ziellos schweift sie umher, die wandelbare Fortuna; nirgends verharrt sie; kein
Ort hält sie auf Dauer fest. Heiter schreitet sie jetzt und jetzt mit bedrohlicher
Miene, bleibt sich in einem nur gleich: in der Veränderlichkeit. (Ovid: Tristia
5, 8, 15-20).
Fortuna erfasst alles so stark, dass die einzige Konstanz des Lebens just seine
Inkonstanz ist: Hierauf stoisch zu reagieren, ist ein kluger Rat, aber auch ein fast
aussichtsloser. In diesem Sinn findet Gaius Plinius d.A. zu klassischen Formulie-
rungen, die dem Zufall ebenso Rechnung tragen wie den ambivalenten Einstellun-
gen der Menschen zu diesem:
In der ganzen Welt nämlich und an allen Orten und zu allen Zeiten und von
den Stimmen aller wird allein das Glück (Fortuna) angerufen und genannt,
allein angeklagt und allein beschuldigt, allein gelobt, allein bezichtigt und un-
ter Vorwürfen verehrt, als unveränderlich, von vielen als flüchtig, aber auch
als blind betrachtet, unbeständig, unsicher, wechselreich und eine Gönnerin
Unwürdiger. Ihr wird aller Verlust, aller Gewinn zugeschrieben und in der Ge-
samtabrechnung der Sterblichen füllt sie [ = Fortuna] allein die beiden Seiten;
so sehr sind wir dem Schicksal unterworfen, dass dieses selbst als eine Gottheit
gilt, wodurch doch diese Gottheit als ungewiss erwiesen wird. (Plinius: Nat.
hist. II, 5)
Und Cicero pflichtet bei: „Nichts ist nämlich der Vernunft und der Bestän-
digkeit so entgegengesetzt wie Fortuna.“ (De Divinatione, 11.18). Für ihn, den
stoisch Denkenden, ist es klar, dass, gegenüber der selbstbestimmten Virtus, die
Macht des Fatums wie der Fortuna begrenzt werden muss.
Man versteht jetzt die Gegnerschaft der Philosophen gegen Fortuna besser.
Als Göttin des nicht-teleologischen Wandels, der Unordnung, des Occasionellen
und Inkommensurablen widerspricht sie dem Ordo-Denken der Philosophie, für
die der Kosmos eine Epiphanie der ewigen Gegenwart und das Vorbild allen Han-
dels und aller Erkenntnis ist. Gegenüber der Unordnung der sublunaren Welt und
der Wechselfälle des Lebens muss man die Ataraxie, die Apathie, und mit ihr die
Klugheit (prudentia) aufbieten, um gegen Fortuna gewappnet zu sein. Virtus, fortitu-
do, sapientia, diligentia sind bei Seneca und Cicero die Pharmaka gegen Fortuna und
Fatum - und das bleibt so bis in den Stoizismus des 17. Jahrhunderts.
Diese Auffassung wird maßgeblich auch für die interpretatio christiana des Zu-
falls bei Augustin und Boethius (480—524 n. Chr.). Letzterer entmächtigt Fortuna

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