Heidelberger Akademievorlesung
dadurch, dass sie dem Vorherwissen und der Vorherbestimmung Gottes sowie der
menschlichen Willensfreiheit unterstellt wird (Consolationes Philosophiae, lib. II). Die
göttliche Providcnz heilt das Unterworfensein unter Fortuna. In den christlichen
Tugenden fand man die Heilmittel gegen Verlockungen und Bedrohungen des zwie-
gesichtigen Glücks. Die Unvereinbarkeit des Monotheismus mit der Allgöttin For-
tuna konnte im Begriff der Providentia aufgelöst werden. Von dieser Deutung ließen
sich noch Petrarca, Dante oder Boccaccio inspirieren (Haug, Wachinger 1995).
In der Scholastik gewinnt der Zufall auch eine epistemologische Funktion,
auf die man in der Frühen Neuzeit aufbauen konnte. Der Zufall ist (1) nur eine
Form des Nicht-Wissens, der Unberechenbarkeit oder der aleatorischen Wahr-
scheinlichkeit; (2) bezeichnet der Zufall die Klasse der seltenen oder Indischen
Ereignisse (Singularitäten, Mirabilia, ludi naturae) oder die Klasse der Ereignisse, an
deren Stelle auch das Gegenteil treten könnte; (3) solche Ereignisse, die von außen
her gesehen als Zufälle erscheinen, aber aus freier Willensentscheidung hervor-
gehen, sowie (4) solche Situationen, in denen eine passive Indifferenz zwischen
äquivalenten Möglichkeiten eine bloß zufällige Selektion erlaubt.
Die verbreitete Feindschaft der philosophischen und theologischen Eliten
gegen den Zufall dauert an, bis im 16. Jahrhundert mit dem machiavellistischen
Politiker und dem merchant adventurer, der wagemutig und risikoaffin sein Kapital
einsetzt, neue Sozialtypen, Akteure und Professionen auf dem Weltplan auftreten,
die zum Zufall eine andere Haltung gewinnen. Dem folgen im 17. Jahrhundert
dann diejenigen Philosophen, die mit dem Wahrscheinlichkeitskalkül sich auf das
Potentielle, Serielle und Zufällige einlassen: Erst dann kann der moderne Begriff
von Kontingenz, von Risiko und „Möglichkeitssinn“ (Robert Musil) entstehen.
Der Zufall, das Scheitern und das Meer
Wenden wir uns dem Zusammenhang von Zufall und Scheitern in der neuzeitli-
chen Welt zu. Meine Frage ist: Warum ist es in vormodernen Gesellschaften na-
hezu unmöglich, vom Scheitern zu sprechen? Scheitern setzt voraus, dass wir mit
unseren Intentionen, Erwartungen, Handlungen scheitern am eigenen Unvermö-
gen, am Widerstand der Mitwelt oder an widrigen Umständen. Scheitern setzt also
eine relative Autonomie eines Subjekts voraus. Eben diese Autonomie bestand in
den antiken und christlichen Epochen nicht oder nur eingeschränkt. Denn wer
regierte den Weltlauf? Wir sahen, dass es Nemesis (Verhängnis, Schicksal) und
Tyche/Fortuna waren, welche die Biographien und Handlungsabläufe, Wohl und
Wehe der Polis und sogar des Staates bestimmten. In der Tragödie werden die Pro-
tagonisten unschuldig schuldig, denn auch in ihrem verfehlten Handeln regiert
Nemesis. Fortuna setzt die Menschen einem unberechenbaren Schicksal und ei-
ner ständigen Umwälzung aus. Diese Fortuna kann man mit Hans Blumenberg
eine „Daseinsmetapher“ nennen (Blumenberg 1979).
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dadurch, dass sie dem Vorherwissen und der Vorherbestimmung Gottes sowie der
menschlichen Willensfreiheit unterstellt wird (Consolationes Philosophiae, lib. II). Die
göttliche Providcnz heilt das Unterworfensein unter Fortuna. In den christlichen
Tugenden fand man die Heilmittel gegen Verlockungen und Bedrohungen des zwie-
gesichtigen Glücks. Die Unvereinbarkeit des Monotheismus mit der Allgöttin For-
tuna konnte im Begriff der Providentia aufgelöst werden. Von dieser Deutung ließen
sich noch Petrarca, Dante oder Boccaccio inspirieren (Haug, Wachinger 1995).
In der Scholastik gewinnt der Zufall auch eine epistemologische Funktion,
auf die man in der Frühen Neuzeit aufbauen konnte. Der Zufall ist (1) nur eine
Form des Nicht-Wissens, der Unberechenbarkeit oder der aleatorischen Wahr-
scheinlichkeit; (2) bezeichnet der Zufall die Klasse der seltenen oder Indischen
Ereignisse (Singularitäten, Mirabilia, ludi naturae) oder die Klasse der Ereignisse, an
deren Stelle auch das Gegenteil treten könnte; (3) solche Ereignisse, die von außen
her gesehen als Zufälle erscheinen, aber aus freier Willensentscheidung hervor-
gehen, sowie (4) solche Situationen, in denen eine passive Indifferenz zwischen
äquivalenten Möglichkeiten eine bloß zufällige Selektion erlaubt.
Die verbreitete Feindschaft der philosophischen und theologischen Eliten
gegen den Zufall dauert an, bis im 16. Jahrhundert mit dem machiavellistischen
Politiker und dem merchant adventurer, der wagemutig und risikoaffin sein Kapital
einsetzt, neue Sozialtypen, Akteure und Professionen auf dem Weltplan auftreten,
die zum Zufall eine andere Haltung gewinnen. Dem folgen im 17. Jahrhundert
dann diejenigen Philosophen, die mit dem Wahrscheinlichkeitskalkül sich auf das
Potentielle, Serielle und Zufällige einlassen: Erst dann kann der moderne Begriff
von Kontingenz, von Risiko und „Möglichkeitssinn“ (Robert Musil) entstehen.
Der Zufall, das Scheitern und das Meer
Wenden wir uns dem Zusammenhang von Zufall und Scheitern in der neuzeitli-
chen Welt zu. Meine Frage ist: Warum ist es in vormodernen Gesellschaften na-
hezu unmöglich, vom Scheitern zu sprechen? Scheitern setzt voraus, dass wir mit
unseren Intentionen, Erwartungen, Handlungen scheitern am eigenen Unvermö-
gen, am Widerstand der Mitwelt oder an widrigen Umständen. Scheitern setzt also
eine relative Autonomie eines Subjekts voraus. Eben diese Autonomie bestand in
den antiken und christlichen Epochen nicht oder nur eingeschränkt. Denn wer
regierte den Weltlauf? Wir sahen, dass es Nemesis (Verhängnis, Schicksal) und
Tyche/Fortuna waren, welche die Biographien und Handlungsabläufe, Wohl und
Wehe der Polis und sogar des Staates bestimmten. In der Tragödie werden die Pro-
tagonisten unschuldig schuldig, denn auch in ihrem verfehlten Handeln regiert
Nemesis. Fortuna setzt die Menschen einem unberechenbaren Schicksal und ei-
ner ständigen Umwälzung aus. Diese Fortuna kann man mit Hans Blumenberg
eine „Daseinsmetapher“ nennen (Blumenberg 1979).
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