Heidelberger Akademievorlesung
Erstens kann man sagen, dass seitens des Autors sich mit dem Scheiternsrisiko
auch die Kreativität erhöht, aber auch umgekehrt: Eine frei flottierende, institutio-
nell ungesicherte Kreativität erhöht das Risiko des Scheiterns. Von wenigen großen
Ausnahmen glücklichen Schöpfertums und durchschlagenden Erfolgs abgesehen
ist die soziale Signatur des modernen Künstlers von Merkmalen des Prekären be-
stimmt: Einsamkeit, Anomie, Armut, Lebenskrisen, sozialer Kollaps, Krankheit,
bis zum Wahnsinn gehende Grenzzustände, obsessive Faszination durch das Böse
charakterisieren denpoete maudit, wie ihn Charles Baudelaire lebte und inszenierte.
Radikaler Literat zu sein, hieß oft genug, im Leben zu scheitern, eingeschlossen
in Außenseitertum, Boheme, Subkultur, die nicht zu durchbrechen waren und
den bürgerlichen Tod einschlossen. Von der „exzentrischen Bahn“ der Autorschaft
wusste schon Hölderlin. Rimbaud, Nietzsche, Kafka, Robert Walser sind andere
Fälle dafür, dass herausragende Werke zu schaffen oft hieß, als Autor in der bürger-
lichen Gesellschaft zu scheitern. Das war der Preis für die Freiheit in der kontin-
genten Welt. Scheitern aber konnte man auch an der Ordnung von Gattungen: In
dem Maße, wie Robert Musil Zufall und Kontingenz, Anomie und Strukturkrisen
in das Erzählen integrierte, geriet ihm der Roman „Der Mann ohne Eigenschaf-
ten“ zum Fragment. So sehr dieser Roman die Moderne auf den Punkt brachte, so
sehr scheiterte er am Gattungserfordernis integraler Totalität der erzählten Welt.
Musil ist exemplarisch dafür, dass der ästhetisch nicht mehr beherrschte Roman
zum Symptom einer kontingenten Welt geworden ist. Umgekehrt gilt: jede voll-
endete narrative Integralität ist als Kontingenzabwehr zu verstehen.
Damit sind wir am zweiten Punkt: Zufall und Scheitern als innerästhetisches
Merkmal der Literatur. Man kann sagen, dass schon mit der „Odyssee“ die uner-
schöpfliche Reihe der Narrative beginnt, worin das Ausgesetztsein und der Zufall,
die Irrfahrt und das Scheitern geradezu strukturell mit dem Erzählen koinzidier-
ten. Das gilt, auch wenn über Jahrhunderte das „Scheitern mit glücklicher Wen-
de am Ende“ ein Gebot der Gattung blieb. Die Wunden, die das Erzählen seinen
Protagonisten schlug, schienen am Ende durch die heilsame Re-Integration in die
soziale Ordnung geheilt. Dieses Muster bestimmte schon den antiken Roman, die
mittelalterliche Epik und den klassischen Roman von Rabelais über Cervantes bis
zu Laurence Sterne und Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre, dessen glückliches En-
de eine nicht-lineare, „umständliche“, mäandernde, ja nomadische Fortsetzung in
den Wanderjahren findet. „Sollten zufällige Ereignisse einen Zusammenhang ha-
ben? Und das, was wir Schicksal nennen, sollte es bloß Zufall sein?“, fragt sich
Wilhelm (MAV, 496). Wenn das „glückliche Ende“ selbst nur ein zufallender,
flüchtiger Effekt ist, der weder durch die immanente Handlungslogik noch durch
eine unverbrüchliche Weltordnung gesichert wird, - wenn also das „glückliche
Ende“ entfällt, dann wird das Scheitern unausweichlich und der Zufall ist nicht
mehr durch Sinnordnungen zähmbar. Das „Ende“ als Desaster. Man denke an
Joris-Karl Huysmans, Kafka oder Döblin.
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Erstens kann man sagen, dass seitens des Autors sich mit dem Scheiternsrisiko
auch die Kreativität erhöht, aber auch umgekehrt: Eine frei flottierende, institutio-
nell ungesicherte Kreativität erhöht das Risiko des Scheiterns. Von wenigen großen
Ausnahmen glücklichen Schöpfertums und durchschlagenden Erfolgs abgesehen
ist die soziale Signatur des modernen Künstlers von Merkmalen des Prekären be-
stimmt: Einsamkeit, Anomie, Armut, Lebenskrisen, sozialer Kollaps, Krankheit,
bis zum Wahnsinn gehende Grenzzustände, obsessive Faszination durch das Böse
charakterisieren denpoete maudit, wie ihn Charles Baudelaire lebte und inszenierte.
Radikaler Literat zu sein, hieß oft genug, im Leben zu scheitern, eingeschlossen
in Außenseitertum, Boheme, Subkultur, die nicht zu durchbrechen waren und
den bürgerlichen Tod einschlossen. Von der „exzentrischen Bahn“ der Autorschaft
wusste schon Hölderlin. Rimbaud, Nietzsche, Kafka, Robert Walser sind andere
Fälle dafür, dass herausragende Werke zu schaffen oft hieß, als Autor in der bürger-
lichen Gesellschaft zu scheitern. Das war der Preis für die Freiheit in der kontin-
genten Welt. Scheitern aber konnte man auch an der Ordnung von Gattungen: In
dem Maße, wie Robert Musil Zufall und Kontingenz, Anomie und Strukturkrisen
in das Erzählen integrierte, geriet ihm der Roman „Der Mann ohne Eigenschaf-
ten“ zum Fragment. So sehr dieser Roman die Moderne auf den Punkt brachte, so
sehr scheiterte er am Gattungserfordernis integraler Totalität der erzählten Welt.
Musil ist exemplarisch dafür, dass der ästhetisch nicht mehr beherrschte Roman
zum Symptom einer kontingenten Welt geworden ist. Umgekehrt gilt: jede voll-
endete narrative Integralität ist als Kontingenzabwehr zu verstehen.
Damit sind wir am zweiten Punkt: Zufall und Scheitern als innerästhetisches
Merkmal der Literatur. Man kann sagen, dass schon mit der „Odyssee“ die uner-
schöpfliche Reihe der Narrative beginnt, worin das Ausgesetztsein und der Zufall,
die Irrfahrt und das Scheitern geradezu strukturell mit dem Erzählen koinzidier-
ten. Das gilt, auch wenn über Jahrhunderte das „Scheitern mit glücklicher Wen-
de am Ende“ ein Gebot der Gattung blieb. Die Wunden, die das Erzählen seinen
Protagonisten schlug, schienen am Ende durch die heilsame Re-Integration in die
soziale Ordnung geheilt. Dieses Muster bestimmte schon den antiken Roman, die
mittelalterliche Epik und den klassischen Roman von Rabelais über Cervantes bis
zu Laurence Sterne und Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre, dessen glückliches En-
de eine nicht-lineare, „umständliche“, mäandernde, ja nomadische Fortsetzung in
den Wanderjahren findet. „Sollten zufällige Ereignisse einen Zusammenhang ha-
ben? Und das, was wir Schicksal nennen, sollte es bloß Zufall sein?“, fragt sich
Wilhelm (MAV, 496). Wenn das „glückliche Ende“ selbst nur ein zufallender,
flüchtiger Effekt ist, der weder durch die immanente Handlungslogik noch durch
eine unverbrüchliche Weltordnung gesichert wird, - wenn also das „glückliche
Ende“ entfällt, dann wird das Scheitern unausweichlich und der Zufall ist nicht
mehr durch Sinnordnungen zähmbar. Das „Ende“ als Desaster. Man denke an
Joris-Karl Huysmans, Kafka oder Döblin.
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