Heidelberger Akademievorlesung
la Terre“, La Mettrie 1748/1921, 105). Derartige Ideen werden zu Quellen des eu-
ropäischen Nihilismus, der aus der Enttäuschung über den Zusammenbruch der
metaphysischen Architektur des Christentums hervorgeht. Der leer gefegte Him-
mel hinterlässt einen radikalen Kontingenzverdacht.
Doch gibt es auch Ansätze zu einer positiven Deutung des Zufalls, etwa bei
Pierre Louis Moreau de Maupertuis, der den Zufall für die Mannigfaltigkeit der
Individualitäten zuständig sein lässt (Vom universellen System der Natur oder Essay über
die organischen Körper, 1751). Die Notwendigkeit schafft Reihen aus identischen
Gliedern; der Zufall aber erzeugt Differenzen, Variationen, Besonderheiten, aber
auch Entwicklungen. Bei Charles Darwin (On the origin of species by means of natu-
ral selection, 1859) und später bei Jacques Monod (Zufall und Notwendigkeit, 1971)
wird der Zufall als Produktionsmechanismus der Natur entdeckt und zur Basis der
Evolution erklärt: der Zufall wird zur Bedingung des Evolutionswunders. Auch in
der Physik erhält der Zufall seinen Auftritt und damit wird der Zufall der Natur
in den Naturwissenschaften seit dem 19. Jahrhundert lizensiert. Es entsteht eine
zufallssensible Kosmologie, so der Historiker Peter Vogt (2011, 2015). Dies meint,
dass die Natur, die bis zu Isaac Newton doch immer für fugenlose Gesetzlichkeit
einstand, für den Zufall durchlässig wird.
Für die Geschichte hingegen zeigt Vogt (2015), dass seit der Frühen Neu-
zeit zwei einander widersprechende Auffassungen entwickelt werden. Dabei geht
es um die Frage der Verfügbarkeit von Geschichte. Wenn der Renaissance-Topos
virtü vince fortuna weit verbreitet ist und bei Machiavelli zum Prinzip des politi-
schen Handelns des Fürsten wird, dann wird in der besiegten Fortuna zugleich die
Verfügbarkeit von Geschichte gedacht. Genauer betrachtet ist es so, dass Fortuna
nicht mehr die Herrschaft des Geschicks über den Menschen bedeutet, sondern
gerade die Ermöglichungsbedingung von Freiheit und damit auch von Handeln.
Nur wo der Zufall zur Geschichte gehört, gibt es auch die Möglichkeit von Hand-
lungen, die Geschichte gestalten und nicht nur mitvollziehen. Es gibt also seit
der Frühen Neuzeit eine theoretische Aufmerksamkeit für die Handlungsmög-
lichkeiten in einer Welt, die selbst nach der Logik des Möglichen eingerichtet ist.
Im 19. Jahrhundert wiederholt sich der Streit über die Verfügbarkeit oder Un-
ververfügbarkeit der Geschichte im Gegensatz von Romantik und Historismus.
Während die Romantik mit ihrer Betonung des Möglichkeitskonzepts die Gestalt-
barkeit der Geschichte betont, so deklariert der Historismus die unhintergehbare
Unverfügbarkeit der Geschichte, die nur die Möglichkeit lässt, sich einer solchen
Bestimmtheit der Geschichte zu fügen (vgl. Bubner 1993; Makropoulos 1998a,
Oexle 1996).
Für die Moderne unternehmen nicht nur Richard Rorty (1989) und Odo
Marquard (1986) eine „Apologie des Zufälligen“, sondern die Kontingenz wird
zur zentralen Kategorie auch in der Soziologe. Bei Niklas Luhmann entwickeln
soziale Systeme eine immanente Semantik für Kontingenz, also für Ereignisse, die
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la Terre“, La Mettrie 1748/1921, 105). Derartige Ideen werden zu Quellen des eu-
ropäischen Nihilismus, der aus der Enttäuschung über den Zusammenbruch der
metaphysischen Architektur des Christentums hervorgeht. Der leer gefegte Him-
mel hinterlässt einen radikalen Kontingenzverdacht.
Doch gibt es auch Ansätze zu einer positiven Deutung des Zufalls, etwa bei
Pierre Louis Moreau de Maupertuis, der den Zufall für die Mannigfaltigkeit der
Individualitäten zuständig sein lässt (Vom universellen System der Natur oder Essay über
die organischen Körper, 1751). Die Notwendigkeit schafft Reihen aus identischen
Gliedern; der Zufall aber erzeugt Differenzen, Variationen, Besonderheiten, aber
auch Entwicklungen. Bei Charles Darwin (On the origin of species by means of natu-
ral selection, 1859) und später bei Jacques Monod (Zufall und Notwendigkeit, 1971)
wird der Zufall als Produktionsmechanismus der Natur entdeckt und zur Basis der
Evolution erklärt: der Zufall wird zur Bedingung des Evolutionswunders. Auch in
der Physik erhält der Zufall seinen Auftritt und damit wird der Zufall der Natur
in den Naturwissenschaften seit dem 19. Jahrhundert lizensiert. Es entsteht eine
zufallssensible Kosmologie, so der Historiker Peter Vogt (2011, 2015). Dies meint,
dass die Natur, die bis zu Isaac Newton doch immer für fugenlose Gesetzlichkeit
einstand, für den Zufall durchlässig wird.
Für die Geschichte hingegen zeigt Vogt (2015), dass seit der Frühen Neu-
zeit zwei einander widersprechende Auffassungen entwickelt werden. Dabei geht
es um die Frage der Verfügbarkeit von Geschichte. Wenn der Renaissance-Topos
virtü vince fortuna weit verbreitet ist und bei Machiavelli zum Prinzip des politi-
schen Handelns des Fürsten wird, dann wird in der besiegten Fortuna zugleich die
Verfügbarkeit von Geschichte gedacht. Genauer betrachtet ist es so, dass Fortuna
nicht mehr die Herrschaft des Geschicks über den Menschen bedeutet, sondern
gerade die Ermöglichungsbedingung von Freiheit und damit auch von Handeln.
Nur wo der Zufall zur Geschichte gehört, gibt es auch die Möglichkeit von Hand-
lungen, die Geschichte gestalten und nicht nur mitvollziehen. Es gibt also seit
der Frühen Neuzeit eine theoretische Aufmerksamkeit für die Handlungsmög-
lichkeiten in einer Welt, die selbst nach der Logik des Möglichen eingerichtet ist.
Im 19. Jahrhundert wiederholt sich der Streit über die Verfügbarkeit oder Un-
ververfügbarkeit der Geschichte im Gegensatz von Romantik und Historismus.
Während die Romantik mit ihrer Betonung des Möglichkeitskonzepts die Gestalt-
barkeit der Geschichte betont, so deklariert der Historismus die unhintergehbare
Unverfügbarkeit der Geschichte, die nur die Möglichkeit lässt, sich einer solchen
Bestimmtheit der Geschichte zu fügen (vgl. Bubner 1993; Makropoulos 1998a,
Oexle 1996).
Für die Moderne unternehmen nicht nur Richard Rorty (1989) und Odo
Marquard (1986) eine „Apologie des Zufälligen“, sondern die Kontingenz wird
zur zentralen Kategorie auch in der Soziologe. Bei Niklas Luhmann entwickeln
soziale Systeme eine immanente Semantik für Kontingenz, also für Ereignisse, die
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