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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2018 — 2019

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B. Die Mitglieder
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I. Antrittsreden
DOI Artikel:
Enders, Markus: Antrittsrede vom 21. Juli 2018
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.55650#0150
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B. Die Mitglieder

von meinem 4. Lebensjahr an bis zum Beginn meiner Schulzeit schickten, mit
seiner oktroyierten Ordnungsstruktur und seinen reglementierten Abläufen als
eine Freiheitsberaubung, der ich mich deshalb auch schon nach wenigen Tagen
durch eine heimliche Flucht zu entziehen versuchte - doch letztlich vergebens,
weil mich meine Eltern wieder dorthin zurückbrachten und die Erzieherinnen
von nun an ein besonders wachsames Auge auf den Ausreißer warfen. So musste
ich unweigerlich die Erziehung zu Zucht und Ordnung von fremder Hand über
mich ergehen lassen, bis ich zu Beginn meiner Grundschulzeit in einem anderen
Nachbarort einen erneuten Befreiungsversuch von einer mir auferlegten fremden
Ordnungsmacht unternahm, und zwar jetzt der der Schule. Denn ich weigerte
mich mit Hilfe allerlei Tricks bis ins zweite Schuljahr hinein die Hausaufgaben
zu erledigen, weil ich es als eine Zumutung empfand, zu Hause, das aber hieß
für mich: im selbstbestimmten, zweckfreien Raum des Spiels, mir von fremden
Personen wie den Schullehrern diktierte Pflichten erfüllen zu müssen. Doch auch
hier holte mich der lange Arm der elterlichen und der schulischen Erziehung bald
wieder ein, bis ich diese Fremdbestimmung als eine Chance sehen lernte, die Welt
anders und vielleicht sogar noch besser kennenzulernen als im Medium des kind-
lichen Spiels. So wurde aus dem freiheitsliebenden Hausaufgabenverweigerer ein
begeisterter Schüler, der aus Neugierde auf den Reichtum der wirklichen Welt sich
möglichst viel Wissen aneignen wollte, bis er merkte, dass das, was er eigentlich
suchte, von Vielwisserei nicht befriedigt werden konnte. Und so entdeckte ich als
Schüler des Freiherr-vom-Stein-Gymnasiums in Fulda je länger desto mehr gleich-
sam mein persönliches Erkenntnisinteresse, sozusagen meine Passion, nämlich die
Philosophie, genauer die Religionsphilosophie. Misslich war nur, dass ich mich
nicht auf einem für diese Passion viel geeigneteren altsprachlich-humanistischen
Gymnasium, sondern einem Gymnasium mit einem mathematisch-naturwissen-
schaftlichen, einem neusprachlichen und einem sozialwissenschaftlichen Schwer-
punkt befand. Denn ohne die Kenntnis der altgriechischen Sprache, das hatte mir
meine Privat-Lektüre von Philosophen wie Karl Jaspers, Martin Heidegger und
Romano Guardini längst gezeigt, konnte ich die Ursprünge und geschichtlichen
Grundlagen des abendländischen Denkens nicht hinreichend verstehen. In dieser
Situation kam mir ein Hinweis einer Cousine auf einen gymnasialen Griechisch-
Lehrer im Nachbarort entgegen, der bisweilen auch privaten Unterricht im Alt-
griechischen erteilte. Dieser damals schon sehr reife und gesetzte Altphilologe
namens Alfons Heckener wirkte auf mich nicht nur in seinem äußeren Erschei-
nungsbild, sondern auch und vor allem in seinem persönlichen Auftreten wie ein
Sokrates redivivus. Nachdem er zuerst meine Kenntnisse der lateinischen Sprache,
die ich als zweite Fremdsprache auf meinem Gymnasium gewählt hatte, auf Herz
und Nieren geprüft hatte, nahm er mich als Privatschüler für den Unterricht des
Altgriechischen an. Fünf Jahre lang ging ich zweimal die Woche für jeweils fast
zwei Stunden zu ihm in den privaten Griechisch-Unterricht, so dass ich unter

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