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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2007 — 2007

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I. Das Geschäftsjahr 2007
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Dichgans, Johannes: Jürgen Pfeiffer (1.12.1922-11.12.2006)
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Jürgen Peiffer | 163

wissenschaftliche Zusammenarbeit mit den Neurologen war durch den Austausch
von Mitarbeitern gesichert und fruchtbar. Der didaktische Impetus und die syste-
matische Durchdringung des Faches sind in Peiffers zuletzt 2002 in dritter Auflage
herausgegebenem Lehrbuch der Neuropathologie eindrucksvoll objektiviert (4).—
Jürgen Peiffer ist später mehr und mehr zu einem wichtigen Zeugen der Zeit-
geschichte seines Faches geworden, einschließlich der Neurologie und Psychiatrie
und ganz besonders während der Zeit des Nationalsozialismus. Der Schlüssel zum
Verständnis seiner langjährigen Auseinandersetzung mit den Verirrungen der Neuro-
medizin in dieser dunklen Epoche (3) und vielleicht auch seiner allgemeinen
Zurückhaltung könnte in seiner eigenen Lebensgeschichte gefunden werden. In sei-
nen bewegenden Lebenserinnerungen (2) bekennt und analysiert er mit bern-
druckender Offenheit, wie die verhängnisvolle Mischung von vaterländischer Gesin-
nung, Opferbereitschaft und sendungsbewusstem Heldenethos zubereitet wurde in
der Schule, beim Jungvolk und der Rundfunkspielschar der Hitlerjugend, wie er aus
so fehlgeleitetem Idealismus 1940 siebzehnjährig als Freiwilliger zunächst zum
Arbeitsdienst und 1941 zu einer Panzeijägerabteilung an der russischen Front geriet,
wo er schließlich zum Abteilungsadjutanten und Kompaniechef aufstieg und von wo
er erst im Mai 1945 zurückkehrte. Und er gesteht verwundert, wohl auch fassungs-
los, immer wieder die Verblendung, welche ihn „zwar das Fanatische und Unerbitt-
liche nicht aber das Falsche, (Böse) und Hohle des Systems“ sehen ließ und eine
tiefergehende Bewertung der Ereignisse, vor allem der Judenverfolgung und der
Euthanasie damals verhinderte. Er schreibt: „Bis 1939 überwog trotz Röhmputsch,
Judenbedrängung und der Beschneidung mancher Freiheiten für die meisten
Jugendlichen das Positive“. Oder an anderer Stelle: „Es war eine heute schwer ver-
ständliche Teilnahmslosigkeit, ein Sichabwenden... eine Anosognosie, das Nichter-
kennen einer Krankheit im Blick auf unsere damalige Gesellschaft“... „Es überwog
em Verpflichtungsgefühl gegenüber dem eigenen Staat“... „Die Urteilsfähigkeit fehl-
te mir allerdings damals weitgehend“... „Ich erkannte die Brisanz der Worte ebenso
wenig wie die Brutalität der Sprache in Hitlers Reden“.
Die schonungslos objektivierende Bearbeitung dieses Themas in Peiffers
medizinhistorischen Studien könnte als Teil der bewertenden Reflexion über das
eigene Leben verstanden werden — als Versuch einer bekennenden Reinigung des
eigenen Denkens und des Ansehens seines Faches - und sicher nicht als sich über-
hebende Kritik. Jürgen Peiffer hat sich nach Kriegsende in ungewöhnlicher Tiefe
mit seinem Teil an der Kriegs- und Vorkriegszeit beschäftigt und sich dabei nicht so
sehr des schlimmen Handelns schuldig sprechen müssen sondern der Blindheit, der
Verblendung, auch des Wegschauens und der untätigen Zulassung. Wer hat das schon
so eingehend bekannt? Er wollte sich nicht weiter schuldig machen des Wegsehens,
nachdem er seit 1947 „um die Verstrickungen einiger von mir lange Zeit hochge-
achteter Fachkollegen in die unverantwortbaren Menschenversuche an Geisteskran-
ken und Häftlingen und in die Tötungsaktionen unter dem Namen der
Euthanasie“ wusste (2). Er empfand es daher als seine Pflicht, noch nach seiner Eme-
ritierung eine jahrelange Reisetätigkeit in deutschen Archiven auf sich zu nehmen
und den anfänglichen Vorwurf der Beschmutzung seines Faches zu ertragen. Inzwi-
 
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