Das WIN-Kolleg | 301
Übernahme säkularisierter europäischer Konzepte verwahren. Jedoch gibt es auch
im sunnitischen Islam Ansätze eines - freilich anderen Regeln gehorchenden - Tole-
ranzkonzeptes und einer Hervorhebung innerer Überzeugungen als eigentlich wich-
tigem, heilsrelevantem Element der Religiosität. Weitere Entwicklungen solcher Ele-
mente sind grundsätzlich möglich. Der Islam wie auch das zugehörige Recht ist
prinzipiell in der Lage, sich pragmatisch auf gegebene Situationen einzustellen und
Überliefertes so zu interpretieren, daß die vorgegebene Situation zu bewältigen ist.
Ob das islamische Reich oder später die islamischen Reiche in historischer Per-
spektive real toleranter waren als die christlichen Reiche, kann offen bleiben. In
jedem Fall aber ist die islamische Religion im Prinzip pluralistischer als die christli-
che (mindestens die katholische), da es keine Lehrautorität gibt. Dies birgt einerseits
die Möglichkeit einer Vielzahl grundsätzlich gleichberechtigter, unterschiedlicher
Interpretationen, Standpunkte und Ansätze, es birgt aber auch die Schwierigkeit der
konservativen Tendenz: Was sich bei der Mehrheit der Muslime nicht durchsetzen
läßt, setzt sich auch nicht durch. Eine große Chance hegt jedoch in der Reichhal-
tigkeit der islamischen Tradition und den vielen unterschiedlichen Anknüpfungs-
möglichkeiten für eine zeitgemäße Theologie und Rechtsgelehrsamkeit, die breite
Akzeptanz finden könnte.
Solche übergreifenden Überlegungen ordnen sich in den Kontext der von den
Mitgliedern und Mitarbeitern der Projektgruppe in ihren Teilprojekten weiterge-
führten Forschungen ein:
(1) Einen Schwerpunkt der Forschungen von Susanne Kurz bildet dabei die Adab-
Literatur: arabische, persische und türkische „Fürstenspiegel“ des 11.—16. Jhs.
und ihre Zusammenhänge mit juristisch angelegten herrschaftstheoretischen
Texten wie auch mit ethischen Werken, die sich an die Philosophie der grie-
chischen Antike anlehnen. Hier, in der Beschäftigung mit Fragen der Herr-
schaftslegitimation und den Erfordernissen „gerechter“ Herrschaft, treffen sich
sonst z.T gegenläufige geistige Strömungen und laufen Traditionsstränge unter-
schiedlicher Herkunft zusammen: Herrschaftstraditionen und —ideale des voris-
lamischen Iran, gnomische und philosophische griechische Überlieferungen
sowie islamische Jurisprudenz und Theologie finden ihren Ausdruck in jeweils
einer oder mehreren der genannten Gattungen, die ihrerseits teils genetisch
Zusammenhängen, teils wechselseitige Einflüsse aufweisen und sich daher kaum
scharf voneinander trennen lassen. Die Argumentationsstrategien können sich
dabei erheblich unterscheiden, ebenso wie die konkreten Zielsetzungen und
die gattungsspezifischen Eigenarten der Schriften. Anhand der verschiedenen
Literaturgattungen und Beobachtungen zu ihrer spezifischen Verarbeitung der
unterschiedlichen Traditionsstränge soll nun die Innen- und Außenperspektive
auf Religionsgelehrte und ihre Stellung und Funktionen in der Gesellschaft
herauspräpariert werden. Die grundlegende Hypothese dabei lautet, daß sich
unterschiedliche Ausbildungsprofile bzw. ein differierendes „professionelles“
Selbstverständnis der Verfasser sowohl in der Wahl der Literaturgattung und
deren spezifischer Gestaltung als auch in Ausführlichkeit und Qualität der
Reflexion auf die Rolle der Religionsgelehrten im Gemeinwesen sowie auf die
Übernahme säkularisierter europäischer Konzepte verwahren. Jedoch gibt es auch
im sunnitischen Islam Ansätze eines - freilich anderen Regeln gehorchenden - Tole-
ranzkonzeptes und einer Hervorhebung innerer Überzeugungen als eigentlich wich-
tigem, heilsrelevantem Element der Religiosität. Weitere Entwicklungen solcher Ele-
mente sind grundsätzlich möglich. Der Islam wie auch das zugehörige Recht ist
prinzipiell in der Lage, sich pragmatisch auf gegebene Situationen einzustellen und
Überliefertes so zu interpretieren, daß die vorgegebene Situation zu bewältigen ist.
Ob das islamische Reich oder später die islamischen Reiche in historischer Per-
spektive real toleranter waren als die christlichen Reiche, kann offen bleiben. In
jedem Fall aber ist die islamische Religion im Prinzip pluralistischer als die christli-
che (mindestens die katholische), da es keine Lehrautorität gibt. Dies birgt einerseits
die Möglichkeit einer Vielzahl grundsätzlich gleichberechtigter, unterschiedlicher
Interpretationen, Standpunkte und Ansätze, es birgt aber auch die Schwierigkeit der
konservativen Tendenz: Was sich bei der Mehrheit der Muslime nicht durchsetzen
läßt, setzt sich auch nicht durch. Eine große Chance hegt jedoch in der Reichhal-
tigkeit der islamischen Tradition und den vielen unterschiedlichen Anknüpfungs-
möglichkeiten für eine zeitgemäße Theologie und Rechtsgelehrsamkeit, die breite
Akzeptanz finden könnte.
Solche übergreifenden Überlegungen ordnen sich in den Kontext der von den
Mitgliedern und Mitarbeitern der Projektgruppe in ihren Teilprojekten weiterge-
führten Forschungen ein:
(1) Einen Schwerpunkt der Forschungen von Susanne Kurz bildet dabei die Adab-
Literatur: arabische, persische und türkische „Fürstenspiegel“ des 11.—16. Jhs.
und ihre Zusammenhänge mit juristisch angelegten herrschaftstheoretischen
Texten wie auch mit ethischen Werken, die sich an die Philosophie der grie-
chischen Antike anlehnen. Hier, in der Beschäftigung mit Fragen der Herr-
schaftslegitimation und den Erfordernissen „gerechter“ Herrschaft, treffen sich
sonst z.T gegenläufige geistige Strömungen und laufen Traditionsstränge unter-
schiedlicher Herkunft zusammen: Herrschaftstraditionen und —ideale des voris-
lamischen Iran, gnomische und philosophische griechische Überlieferungen
sowie islamische Jurisprudenz und Theologie finden ihren Ausdruck in jeweils
einer oder mehreren der genannten Gattungen, die ihrerseits teils genetisch
Zusammenhängen, teils wechselseitige Einflüsse aufweisen und sich daher kaum
scharf voneinander trennen lassen. Die Argumentationsstrategien können sich
dabei erheblich unterscheiden, ebenso wie die konkreten Zielsetzungen und
die gattungsspezifischen Eigenarten der Schriften. Anhand der verschiedenen
Literaturgattungen und Beobachtungen zu ihrer spezifischen Verarbeitung der
unterschiedlichen Traditionsstränge soll nun die Innen- und Außenperspektive
auf Religionsgelehrte und ihre Stellung und Funktionen in der Gesellschaft
herauspräpariert werden. Die grundlegende Hypothese dabei lautet, daß sich
unterschiedliche Ausbildungsprofile bzw. ein differierendes „professionelles“
Selbstverständnis der Verfasser sowohl in der Wahl der Literaturgattung und
deren spezifischer Gestaltung als auch in Ausführlichkeit und Qualität der
Reflexion auf die Rolle der Religionsgelehrten im Gemeinwesen sowie auf die