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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2018 — 2019

DOI Kapitel:
A. Das akademische Jahr 2018
DOI Kapitel:
II. Wissenschaftliche Vorträge
DOI Artikel:
Kirchhof, Paul: Der Dialog unter den Wissenschaften als Bedingung der Forschung
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.55650#0048
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II. Wissenschaftliche Vorträge

stellt er sie in den Dienst seiner Kultur, desto mehr wird er ihr Herr. Er sucht die
ihn bedrohende Welt voll Krankheit, Leid, Katastrophen, Not und Tod zu ver-
ändern, den Kampf aller gegen alle auf Leben und Tod zu mäßigen, menschliche
Grausamkeit, Gewalttätigkeit, Krieg und Unrecht zu beenden.
Doch je mehr es dem Menschen gelingt, die Natur in seinem Sinne zu ver-
ändern, desto mehr bedroht er auch die Natur. Mit der Schädigung der Natur
beschädigt der Mensch sich selbst. Zunächst verbessert gerade die wissenschaft-
liche Naturherrschaft die Lebensbedingungen des Menschen grundlegend. Die
Fortschritte der Medizin, die technische Erleichterung des Arbcitslebcns, die Ver-
kehrsmittel und Informationsinstrumente, die Entlastung des Menschen durch
Computer und Roboter bringen ein Stück Freiheit und Lebensverbesserung, die
auf immer neue Fortschritte von Wissenschaft und Technik hoffen lässt.
Andererseits darf uns der wissenschaftliche und technische Fortschritt nicht
die Luft zum Atmen rauben, nicht die Umwelt zerstören, nicht den einzelnen
Menschen in die Anonymität eines Kollektivs drängen - der Patienten, der Kon-
sumenten, der Steuerzahler und Rentner, die gesamtwirtschaftlich, wachstums-
technisch, gesundheitspolitisch oder werbewirksam gelenkt werden. Der freie
Mensch muss auch die Kraft entwickeln, bei der Benutzung seines PCs die Daten
und Rechenmethoden, die andere Menschen in das System eingespeist haben,
kritisch zu würdigen. Er muss der formatierten Freiheit entrinnen, den Blick über
die Sichtweisen seines PCs hinaus weiten, den Algorithmen auch einmal wider-
sprechen.
Das Buch der Natur ist in einer Sprache geschrieben und mit Siegeln verse-
hen, die wir nicht ganz entschlüsseln können. Wir werden mit Rätseln, mit Ge-
heimnissen, mit nicht gestellten und mit unbeantworteten Fragen leben müssen.
Wir werden unsere Ideale nie gänzlich erreichen. Wenn der Astronom den Welt-
raum vollständig zu ermessen sucht, der Arzt dem Kranken auf Dauer Gesundheit
zu garantieren hofft, der Richter Gerechtigkeit gänzlich verwirklichen will, wird er
scheitern. Wir werden auch im Spiel das Unvorhergesehene genießen, den Alltag
überraschend durchbrechen, in der Begegnung das Geheimnis pflegen.
Zudem erlebt der Mensch die Wirklichkeit stets in der Subjektivität seiner
Sinne und Erfahrungen. Wer aus der Sauna kommt, empfindet die Gartentem-
peratur als kühl; wer aus dem Wasser kommt, als warm. Kamille im botanischen
Garten ist ein Heilkraut, im Rosenbeet ein Unkraut. Der Flug nach Afrika ist für
den Urlauber ein Ferienvergnügen, für den Abgeschobenen Verbannung.
Der Mensch kann die Wirklichkeit nur in ihrer jeweiligen Lage und Um-
gebung beurteilen. Sand in der Sahara ist ein Gemeingut, hat einen Wert von
null Euro. Sand im Betonmischer ist ein rares Wirtschaftsgut, hat einen Wert von
50 Euro. Sand im Getriebe ist ein Schaden, muss mit minus 500 Euro verbucht
werden. Sand in der Sanduhr lässt die Zeit verrinnen und macht die Endlichkeit
bewusst.

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