Paul Kirchhof
Im Übrigen sichert die Freiheit dem Menschen das Recht, sich von Vernunft
und Logik zu lösen, nach Gefühl und Gewohnheit, nach Lebenssicht und Lebens-
erfahrung, nach Sinnen und Sinnlichkeit zu handeln und zu entscheiden. Der
Mensch will auch lachen und singen, tanzen und musizieren, dichten und kari-
kieren, staunen und sich verzaubern lassen. Er will träumen und spielen. Er will
sich aufregen und empören, begeistern und Unmut äußern, bewundern und ver-
ehren. Er will frei gehen und sich gehen lassen, auch einmal leichten Sinnes sein.
Er kennt die Bedeutung von Vernunft und Logik für die Wissenschaften, für die
Technik, für das Recht, erschließt sich aber auch andere Bereiche des Lebens - der
Geselligkeit, der Künste, der Familie, von Spiel und Sport, von Hoffen, Glauben
und Liebe.
Die Wissenschaft dient dem Menschen, muss deshalb in ihrer Vernunft, ihrer
logischen Folgerichtigkeit, ihrer empirischen Nachprüfbarkeit und ihrer norma-
tiven Verallgemeinerungsfähigkeit stets für diese Menschlichkeit offen sein. Sie
muss den Menschen in seiner Ganzheit als Geist und Körper, als denkendes und
fühlendes, rational und sinnlich handelndes Wesen begreifen. Dabei gilt es insbe-
sondere, nicht nur für einzelne Lebensbereiche eine Teilrationalität zu entwickeln.
Die Prinzipien des Wettbewerbs in Politik, Wirtschaft und Sport, des Wachstums
in der Währungspolitik, der Reduktion des Wärmeanstiegs in der Umweltpolitik
bieten eine hilfreiche Teilvernunft, verfehlen aber eine ganzheitliche Vernunft.
Die Gefahr, Vernunft in Teilrationalitäten zu verlieren und damit eine dem
Menschen gerecht werdende Sichtweise zu versperren, hat auch die Wissenschaft
erreicht. Naturwissenschaftler können heute die Bedingtheit und die Wirkungs-
möglichkeiten des menschlichen Körpers beobachten, mit technischer Hilfe seine
Gene entschlüsseln, in einer dem Menschen ohne Technik schlechthin unmögli-
chen Zwergenwelt Natur und Mensch in Nanometern messen. Doch der Mensch
lebt auch jenseits dieser Empirie. Er denkt über sich und seine Welt nach, lässt in
seinem Denken etwas Neues entstehen, das vorher nicht da war - ein Gedanke,
der sich von Kausalitäten löst und unseren Alltagserfahrungen ständiger Freiheit
und bewusster Freiheitsentscheidung entspricht. Vielfach folgt der Mensch in sei-
nem Handeln auch Maßstäben, die in Kunst, Erfahrung und rechtlich gesetztem
Willen entwickelt worden sind. Wenn ein Musiker ein Stück nach Noten spielt,
ein Baumeister nach einem Plan baut, ein Richter dem Gesetz folgt, so bestimmen
diese Vorgaben jenseits biologischer Vorbestimmung sein Verhalten.
Wenn der Mensch die Welt in seiner Sprache begreift, erlernt und studiert,
um einen eigenen Wissens- und Maßstabsspeicher aufzubauen, so ist dieser Spei-
cher Ausdruck betätigter Freiheit, nicht empirischer Vorprägung. Er schöpft aus
einem Speicher von Erfahrungen und Erziehung, von Wissen und Werten, die er
nicht zählen, sondern über die er erzählen kann. Seine Biografie und sein Schicksal
sprengen Denksysteme von Kausalität und Zählbarkeit. Der Mensch lebt in Zu-
fälligkeiten, er wird von einer Naturkatastrophe, einem Terror- oder Kriegsakt be-
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Im Übrigen sichert die Freiheit dem Menschen das Recht, sich von Vernunft
und Logik zu lösen, nach Gefühl und Gewohnheit, nach Lebenssicht und Lebens-
erfahrung, nach Sinnen und Sinnlichkeit zu handeln und zu entscheiden. Der
Mensch will auch lachen und singen, tanzen und musizieren, dichten und kari-
kieren, staunen und sich verzaubern lassen. Er will träumen und spielen. Er will
sich aufregen und empören, begeistern und Unmut äußern, bewundern und ver-
ehren. Er will frei gehen und sich gehen lassen, auch einmal leichten Sinnes sein.
Er kennt die Bedeutung von Vernunft und Logik für die Wissenschaften, für die
Technik, für das Recht, erschließt sich aber auch andere Bereiche des Lebens - der
Geselligkeit, der Künste, der Familie, von Spiel und Sport, von Hoffen, Glauben
und Liebe.
Die Wissenschaft dient dem Menschen, muss deshalb in ihrer Vernunft, ihrer
logischen Folgerichtigkeit, ihrer empirischen Nachprüfbarkeit und ihrer norma-
tiven Verallgemeinerungsfähigkeit stets für diese Menschlichkeit offen sein. Sie
muss den Menschen in seiner Ganzheit als Geist und Körper, als denkendes und
fühlendes, rational und sinnlich handelndes Wesen begreifen. Dabei gilt es insbe-
sondere, nicht nur für einzelne Lebensbereiche eine Teilrationalität zu entwickeln.
Die Prinzipien des Wettbewerbs in Politik, Wirtschaft und Sport, des Wachstums
in der Währungspolitik, der Reduktion des Wärmeanstiegs in der Umweltpolitik
bieten eine hilfreiche Teilvernunft, verfehlen aber eine ganzheitliche Vernunft.
Die Gefahr, Vernunft in Teilrationalitäten zu verlieren und damit eine dem
Menschen gerecht werdende Sichtweise zu versperren, hat auch die Wissenschaft
erreicht. Naturwissenschaftler können heute die Bedingtheit und die Wirkungs-
möglichkeiten des menschlichen Körpers beobachten, mit technischer Hilfe seine
Gene entschlüsseln, in einer dem Menschen ohne Technik schlechthin unmögli-
chen Zwergenwelt Natur und Mensch in Nanometern messen. Doch der Mensch
lebt auch jenseits dieser Empirie. Er denkt über sich und seine Welt nach, lässt in
seinem Denken etwas Neues entstehen, das vorher nicht da war - ein Gedanke,
der sich von Kausalitäten löst und unseren Alltagserfahrungen ständiger Freiheit
und bewusster Freiheitsentscheidung entspricht. Vielfach folgt der Mensch in sei-
nem Handeln auch Maßstäben, die in Kunst, Erfahrung und rechtlich gesetztem
Willen entwickelt worden sind. Wenn ein Musiker ein Stück nach Noten spielt,
ein Baumeister nach einem Plan baut, ein Richter dem Gesetz folgt, so bestimmen
diese Vorgaben jenseits biologischer Vorbestimmung sein Verhalten.
Wenn der Mensch die Welt in seiner Sprache begreift, erlernt und studiert,
um einen eigenen Wissens- und Maßstabsspeicher aufzubauen, so ist dieser Spei-
cher Ausdruck betätigter Freiheit, nicht empirischer Vorprägung. Er schöpft aus
einem Speicher von Erfahrungen und Erziehung, von Wissen und Werten, die er
nicht zählen, sondern über die er erzählen kann. Seine Biografie und sein Schicksal
sprengen Denksysteme von Kausalität und Zählbarkeit. Der Mensch lebt in Zu-
fälligkeiten, er wird von einer Naturkatastrophe, einem Terror- oder Kriegsakt be-
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