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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2018 — 2019

DOI Kapitel:
A. Das akademische Jahr 2018
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II. Wissenschaftliche Vorträge
DOI Artikel:
Enders, Markus: Gibt es ein Schicksal für (je)den Menschen?: religionsphilosophische und ideengeschichtliche Überlegungen zur anthropologischen Deutungskategorie des Schicksals
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.55650#0063
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Markus Enders

In der aristotelischen (z. B. bei Alexander von Aphrodisias) und in der plato-
nischen (z. B. bei dem Neuplatoniker Hierokles von Alexandrien) Schultradtion,
aber auch im antiken Judentum (etwa bei Philon von Alexandrien), in der isla-
mischen Theologie (z. B. in der ashai’ritischen Theorie vom Aneignungs- bzw.
Erwerbscharakter des menschlichen Handelns, der sog. Kasb-Theorie) und in der
frühen christlichen Theologie (insb. bei Boethius) wird das Schicksal einer göttli-
chen Vorsehung als dessen Ausführungsorgan untergeordnet und mit dem (relativ)
freien Selbstbestimmungsvermögen des Menschen in einen widerspruchsfreien
Einklang gebracht.
Im Unterschied zu den unbedingt notwendigen, determinierenden Mo-
menten gibt es auch die bedingt notwendigen Momente der menschlichen
Schicksalserfahrung, d. h. die von jedem menschlichen Individuum zumindest
mitverursachten geschichtlichen Tatsachen seiner individuellen Lebensgeschichte
sowie jener (privaten, zivilen, beruflichen und ehrenamtlichen etc.) „Schicksals-
gemeinschaften“ (z. B. unserer Familie, unseres Volkes, unserer Religionsgemein-
schaft und letztlich auch der Menschheit im Ganzen), zu denen jede(r) Einzelne
von uns jeweils gehört.
4. Ein viertes Moment menschlicher Schicksalserfahrung ist dessen Zufällig-
keit, das sich genau dann einstellt, wenn der einzelne menschliche Schicksalsträ-
ger schicksalshafte Widerfahrnisse deshalb als zufällig empfindet, weil sie weder
seiner eigenen noch irgendeiner anderen ihm bekannten Intention entspringen.
Die Gegensatz-Einheit von harter Notwendigkeit und undurchschaubarer Zufäl-
ligkeit menschlicher Schicksalserfahrung ist zugleich der Grund ihrer (möglichen)
Tragik, wenn der/die Einzelne sich als Opfer einer grausamen, zynischen Schick-
salsmacht empfindet, die ihm/ihr jede Lebensfreude und Hoffnung zu nehmen
scheint. Dieser ambivalente (zugleich notwendige und zufällige) Charakter des
menschlichen Schicksals verdichtet sich gleichsam in der allgemein menschli-
chen Erfahrung unserer ohnmächtigen Preisgegebenheit an die unausweichliche
Schicksalsmacht des Todes, dessen Faktizität für jeden Menschen gewiss ist, des-
sen Zeitpunkt und Umstände jedoch zumindest dem Anschein nach zufällig sind.
Schließlich können die Ohnmacht und Härte der menschlichen Schicksalserfah-
rung sich verwandeln in die existentielle Erfahrung einer geheimnisvoll führenden
und fügenden Macht, die das weltliche Schicksal von Menschen als die irdisch-
zeitliche Erscheinungsform eines fürsorgend-wohlmeinenden, weil vollkommen
liebenden Willens verstehen lässt, der die Schicksalshaften Zustände und Ereignis-
se für die von ihnen Betroffenen zu einem jeweils bestmöglichen Ziel und Zweck
hin lenken will.

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