III. Veranstaltungen
philosophiae (um 524 n. Chr.). Ihr gegen-
über sitzt auf einem unverrückbaren Ku-
bus (sedes virtutis quadrata) die Sapientia.
Im Speculum sapientiae, das nicht etwa der
eitlen Selbstbespiegelung dient (wie bei
Venus oder der Superbia), erkennt sie sich
selbst. Schon bei Seneca ist der Spiegel
auch ein Symbol der cognitio sui (Naturales
quaestiones, lib. I, xvii,4). Dieser Selbster-
kenntnis entspricht die Welt-Erkenntnis:
Auf dem Rahmen des Spiegels erschei-
nen Sonne, Mond und die Planeten.
Mikro- und Makrokosmos bilden eine
strukturelle Korrespondenz. Dies ist die
Grundform der Renaissance-Episteme.
Stabilität und Instabilität der moralischen
und kognitiven Orientierung in der Welt
verteilen sich auf die Festigkeit des Wis-
sens und die Blindheit des Zufalls. Dies
kommt Goethes Auffassung des Lebens
schon sehr nahe.
Im linken oberen Zwickel erkennt
man ein Medaillon mit dem Törichten;
ihm gegenüber der Weise. Dem Törich-
ten ist ein Spruchband zugeordnet, das
aus den Satiren von luvenal zitiert: „Wir
sind es, die dich, o Fortuna, zur Göttin
machen und dich in den Himmel erhe-
Abb. 2 Carolus Bovillus (= Charles de Berei-
tes): Liber de Sapiente. Paris 1509. Anonymer
Titelholzschnitt: Fortuna et Sapientia. — In
den Spruchbändern: links: Tefacimus Fortuna
Deam celoque locamus [luvenal: Saturae lib. X,
365/6]; rechts: Fidite virtuti; Fortuna fugatior
undis [Battista Mantovano: De pugna Virtutis
et Fortunae. In: In Robertum Severinatem
panegyricum carmen. Somnium Romanum.
Epigrammata ad Falconem, Deventer 1496,
Nr. 76, 107-8]
ben“ (luvenal: Saturae, lib. X, 365/6). Dem Weisen ist wiederum ein Vers gewidmet
aus der Nr. 76 der Epigrammata ad Falconem (zuerst 1477) des Humanisten Bat-
tista Mantovano (1447 — 1516). Der hier zitierte Vers lautet: „Vertrau der Tugend:
(denn) Fortuna ist flüchtiger als die Wellen.“ Dass Fortuna mit dem Fluiden, dem
Gestaltwandel des Wassers und der gefahrvollen Unruhe des Meeres verbunden
ist, ist ein Topos seit der römischen Antike.
In Goethes Skulptur wird jede figurative Anspielung auf die römische Fortu-
na gelöscht. Die Attribute, die ihr seit der Antike zukommen, gibt es nicht: Rota
mundi, Steuerruder, Schiff, Sturm und Meer, Füllhorn, Mauerkranz, Augenbinde.
Auch die zu den „Urworte. Orphisch“ gehörigen Verse „TYXH. Das Zufällige“
(1817) nehmen keinen Bezug auf die griechische Agathe Tyche, wohl aber auf das
Fluide, Wechselhafte, Wandelnde - gegenüber dem Determinierten und Schick-
salhaften des Daimon (AAIMOII) (MA XIII. 1, 156/7). Es handelt sich bei der
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philosophiae (um 524 n. Chr.). Ihr gegen-
über sitzt auf einem unverrückbaren Ku-
bus (sedes virtutis quadrata) die Sapientia.
Im Speculum sapientiae, das nicht etwa der
eitlen Selbstbespiegelung dient (wie bei
Venus oder der Superbia), erkennt sie sich
selbst. Schon bei Seneca ist der Spiegel
auch ein Symbol der cognitio sui (Naturales
quaestiones, lib. I, xvii,4). Dieser Selbster-
kenntnis entspricht die Welt-Erkenntnis:
Auf dem Rahmen des Spiegels erschei-
nen Sonne, Mond und die Planeten.
Mikro- und Makrokosmos bilden eine
strukturelle Korrespondenz. Dies ist die
Grundform der Renaissance-Episteme.
Stabilität und Instabilität der moralischen
und kognitiven Orientierung in der Welt
verteilen sich auf die Festigkeit des Wis-
sens und die Blindheit des Zufalls. Dies
kommt Goethes Auffassung des Lebens
schon sehr nahe.
Im linken oberen Zwickel erkennt
man ein Medaillon mit dem Törichten;
ihm gegenüber der Weise. Dem Törich-
ten ist ein Spruchband zugeordnet, das
aus den Satiren von luvenal zitiert: „Wir
sind es, die dich, o Fortuna, zur Göttin
machen und dich in den Himmel erhe-
Abb. 2 Carolus Bovillus (= Charles de Berei-
tes): Liber de Sapiente. Paris 1509. Anonymer
Titelholzschnitt: Fortuna et Sapientia. — In
den Spruchbändern: links: Tefacimus Fortuna
Deam celoque locamus [luvenal: Saturae lib. X,
365/6]; rechts: Fidite virtuti; Fortuna fugatior
undis [Battista Mantovano: De pugna Virtutis
et Fortunae. In: In Robertum Severinatem
panegyricum carmen. Somnium Romanum.
Epigrammata ad Falconem, Deventer 1496,
Nr. 76, 107-8]
ben“ (luvenal: Saturae, lib. X, 365/6). Dem Weisen ist wiederum ein Vers gewidmet
aus der Nr. 76 der Epigrammata ad Falconem (zuerst 1477) des Humanisten Bat-
tista Mantovano (1447 — 1516). Der hier zitierte Vers lautet: „Vertrau der Tugend:
(denn) Fortuna ist flüchtiger als die Wellen.“ Dass Fortuna mit dem Fluiden, dem
Gestaltwandel des Wassers und der gefahrvollen Unruhe des Meeres verbunden
ist, ist ein Topos seit der römischen Antike.
In Goethes Skulptur wird jede figurative Anspielung auf die römische Fortu-
na gelöscht. Die Attribute, die ihr seit der Antike zukommen, gibt es nicht: Rota
mundi, Steuerruder, Schiff, Sturm und Meer, Füllhorn, Mauerkranz, Augenbinde.
Auch die zu den „Urworte. Orphisch“ gehörigen Verse „TYXH. Das Zufällige“
(1817) nehmen keinen Bezug auf die griechische Agathe Tyche, wohl aber auf das
Fluide, Wechselhafte, Wandelnde - gegenüber dem Determinierten und Schick-
salhaften des Daimon (AAIMOII) (MA XIII. 1, 156/7). Es handelt sich bei der
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