III. Veranstaltungen
Shakespeares Hamlet-Tragödie ist zu Recht als erstes modernes Drama bezeichnet
worden. Indem Reflexionsüberhang und Handlungshemmung bei Hamlet hyper-
troph werden, wächst die Kontingenz und rückt sein Scheitern immer näher. Im
Don-Quijote-Roman von Cervantes kollidiert eine durch Lektüre beflügelte, aber
auch entgrenzte Phantasie stets mit trivialen Realitäten, so dass Quijotes Scheitern
programmiert ist, während sein Begleiter Sancho Pansa in seinem unverwüstlichen
Materialismus geradezu unfähig ist zu scheitern. Goethes „Faust“ wiederum ist
ein Beispiel für ein grandioses Scheitern, derart, dass die Kette des Scheiterns und
die inkohärente Verknüpfung von Episoden sich zwar als der Weg erweisen, das
Drama immer welthaltiger werden zu lassen, während die Falllinie des Helden,
der alle Weltgegenden und Sinnprovinzen durcheilt, unausweichlich nach unten
weist. Die Kontingenzen und Dissimulationen der Welt, die bloße Zufälligkeit
des Daseins, das durch keine Anstrengung sinnhaft und identisch zu machen ist,
lassen die Erlösung am Ende von „Faust II“ zum ironischen Spektakel werden.
Scheitern ist Schicksal. Scheitern ist aber auch die große, unverwechselbare Kom-
petenz von Faust.
Risikoaffmität und das Vermögen des Scheiternkönnens werden zu Kennun-
gen des modernen Helden, der keiner mehr ist. Die Spur der „Odyssee“ aufneh-
mend lässt James Joyce in seinem „Ulysses“ die Daseinsunruhe, die Kontingenz,
das Unvorhersehbare von Glück und Unglück, die nur noch Spielarten des Zufalls
sind, zur ungeregelten Bahn des wahrlich postheroischen Protagonisten werden.
Der labyrinthische Weg dieses einen Tags in Dublin wird von Joyce zu einem my-
thischen Patchwork geflochten. In der Existenzialontologie Heideggers und der
französischen Existenzphilosophie wird wenig später mit dem Geworfensein des
Menschen die Kontingenz zum Seinsgrund und das Occasionelle der alten For-
tuna zur Signatur des modernen Menschen erklärt: die Occasio, der Kairos ist
das, was zur Entscheidung aufruft, ein Mittel zur Emanzipation, die oft genug aus
Scheitern und Fehlschlag geboren wird.
Der Zufall erreicht Wissenschaft und Gesellschaft
Dieses Denken macht die Faktizität der Welt indes rätselhaft und unergründlich;
das Schöpfungsgeheimnis bleibt ohnehin unenträtselbar. Die absolute Kontingenz
der Welt weckt aber erst die Frage, warum es überhaupt etwas gibt und nicht viel-
mehr nichts. Dies radikalisiert sich auf dem Weg zur Moderne, die nach dem Tod
Gottes mit den metaphysischen Ruinen konfrontiert ist: Dies ist die Grundlosig-
keit der Welt, von der z. B. der Aufklärer Paul-Henri Thiry d’Holbach in Systeme
de la Nature (1770/1978) spricht: Die Natur ist ungeschaffen, nicht-teleologisch,
grundlos und zufällig, aber doch in selbsttätigen Bewegungsgesetzen organisiert.
Julien Offray de La Mettrie denkt die menschliche Existenz „au hasard“ auf die
Erde geworfen („Peut-etre a-t-il ete jete au hasard sur un point de la surface der
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Shakespeares Hamlet-Tragödie ist zu Recht als erstes modernes Drama bezeichnet
worden. Indem Reflexionsüberhang und Handlungshemmung bei Hamlet hyper-
troph werden, wächst die Kontingenz und rückt sein Scheitern immer näher. Im
Don-Quijote-Roman von Cervantes kollidiert eine durch Lektüre beflügelte, aber
auch entgrenzte Phantasie stets mit trivialen Realitäten, so dass Quijotes Scheitern
programmiert ist, während sein Begleiter Sancho Pansa in seinem unverwüstlichen
Materialismus geradezu unfähig ist zu scheitern. Goethes „Faust“ wiederum ist
ein Beispiel für ein grandioses Scheitern, derart, dass die Kette des Scheiterns und
die inkohärente Verknüpfung von Episoden sich zwar als der Weg erweisen, das
Drama immer welthaltiger werden zu lassen, während die Falllinie des Helden,
der alle Weltgegenden und Sinnprovinzen durcheilt, unausweichlich nach unten
weist. Die Kontingenzen und Dissimulationen der Welt, die bloße Zufälligkeit
des Daseins, das durch keine Anstrengung sinnhaft und identisch zu machen ist,
lassen die Erlösung am Ende von „Faust II“ zum ironischen Spektakel werden.
Scheitern ist Schicksal. Scheitern ist aber auch die große, unverwechselbare Kom-
petenz von Faust.
Risikoaffmität und das Vermögen des Scheiternkönnens werden zu Kennun-
gen des modernen Helden, der keiner mehr ist. Die Spur der „Odyssee“ aufneh-
mend lässt James Joyce in seinem „Ulysses“ die Daseinsunruhe, die Kontingenz,
das Unvorhersehbare von Glück und Unglück, die nur noch Spielarten des Zufalls
sind, zur ungeregelten Bahn des wahrlich postheroischen Protagonisten werden.
Der labyrinthische Weg dieses einen Tags in Dublin wird von Joyce zu einem my-
thischen Patchwork geflochten. In der Existenzialontologie Heideggers und der
französischen Existenzphilosophie wird wenig später mit dem Geworfensein des
Menschen die Kontingenz zum Seinsgrund und das Occasionelle der alten For-
tuna zur Signatur des modernen Menschen erklärt: die Occasio, der Kairos ist
das, was zur Entscheidung aufruft, ein Mittel zur Emanzipation, die oft genug aus
Scheitern und Fehlschlag geboren wird.
Der Zufall erreicht Wissenschaft und Gesellschaft
Dieses Denken macht die Faktizität der Welt indes rätselhaft und unergründlich;
das Schöpfungsgeheimnis bleibt ohnehin unenträtselbar. Die absolute Kontingenz
der Welt weckt aber erst die Frage, warum es überhaupt etwas gibt und nicht viel-
mehr nichts. Dies radikalisiert sich auf dem Weg zur Moderne, die nach dem Tod
Gottes mit den metaphysischen Ruinen konfrontiert ist: Dies ist die Grundlosig-
keit der Welt, von der z. B. der Aufklärer Paul-Henri Thiry d’Holbach in Systeme
de la Nature (1770/1978) spricht: Die Natur ist ungeschaffen, nicht-teleologisch,
grundlos und zufällig, aber doch in selbsttätigen Bewegungsgesetzen organisiert.
Julien Offray de La Mettrie denkt die menschliche Existenz „au hasard“ auf die
Erde geworfen („Peut-etre a-t-il ete jete au hasard sur un point de la surface der
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