Heidelberger Akademievorlesung
Giddens spricht von disembedding, Entbettung (Lukäcs 1916/1984, 35; Giddens
1990, 17 — 27). Im Ergebnis führte dies für Staat und Gesellschaft, aber auch für
die Individuen zu massiven Überlastungen. Trotz gewachsener staatlicher Po-
tentiale waren unsteuerbare Zyklen von Aufschwung und Depression die Folge.
Befeuert werden dadurch aber auch populistische Bewegungen, die längst auf
Regierungsebene angekommen sind und diejenigen Anomien verstärken, die zu
bekämpfen sie angetreten sind.
Moderne Gesellschaften müssen ihre Identität auf permanenten und riskan-
ten Wandel, auf Bewegung, Zerstörung und Wachstum einstellen. Unsicherheit ist
ihre Entwicklungsvoraussetzung. Aber der Innovationsdruck, verbunden mit der
Enttraditionalisierung, bedeutet für immer mehr Menschen nur noch Stress, De-
pression und Wut - Nährboden für jeden Populismus. Und so erwächst aus dem
Modernisierungsmodus des risikoaffinen Möglichkeitsdenkens eine wachsende
Nachfrage nach ideologischen Bewältigungsformen dieser Verunsicherungspro-
zesse. Dies drückt sich, in Zeiten wachsender Entstaatlichung der Daseinsvorsor-
ge, aber auch in der Zunahme zivilgesellschaftlicher Dienstleistungen aus, die von
privater Altersvorsorge bis zu Psychotherapie oder Fitnesskultur reichen. Das heißt
heute private Kontingenzbewältigungskompetenz.
Die in der Moderne aufgebauten Einrichtungen der Sekurität generierten ein
Lebensgefühl, das nicht mehr in religiöser Vergewisserung, sondern in sozialen
Garantien wurzelt. Diese wurden freilich erkauft mit dem Bewusstsein um die
Zufälligkeit des eigenen Handelns und um die Unzuverlässigkeit der staatlichen
Institutionen: An die Stelle religiöser Heilsgarantien trat ein Risikomanagement,
das der Staat für die Gesellschaft und der Bürger für sein Lebensskript zu entwi-
ckeln hatte. Genau diese Strategien brechen heute zusammen. Dies führt zu einer
befremdlichen Diagnose: Die Moderne stellt die Erweiterung des Möglichkeits-
raums auf Dauer, während die Mentalitäten nicht in gleicher Weise mitgewach-
sen sind. Angesichts der Möglichkeiten, die oft nur noch schrecken, verbreiten
sich misstrauische, ungläubige, gelähmte und depressive Stimmungen. Auch dies
stärkt den Populismus.
In traditionalen Gesellschaften war die Religion die zentrale Institution für
Sinnstiftung. Ökonomie war Heilsökonomie: für die Tröstung bei Ängsten und
Katastrophen, für die Bewältigung des allgegenwärtigen Todes und für die ,Ge-
borgenheit4 im Schoß einer Zeit, die jeden Einzelnen in das Heilshandeln Got-
tes zwischen Ursprungsereignis und Endgericht einhegte. Die metaphysische
Rahmenlosigkeit der Moderne hat die Spielräume der Kontingenz und damit die
Räume selbstregulierter Lebensgestaltungen ständig anwachsen lassen - in einer
Radikalität, wie sie niemals zuvor in der Geschichte bestand. Dass dies Angst
oder Wut auslöst, darf nicht verwundern. Damit wurde den Instanzen, die die-
sen Prozess vorantrieben, die Erwartung aufgebürdet, die drohende Sinnleere, die
Unsicherheit und Zukunftsungewissheit, den psychophysischen Stress in einer
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Giddens spricht von disembedding, Entbettung (Lukäcs 1916/1984, 35; Giddens
1990, 17 — 27). Im Ergebnis führte dies für Staat und Gesellschaft, aber auch für
die Individuen zu massiven Überlastungen. Trotz gewachsener staatlicher Po-
tentiale waren unsteuerbare Zyklen von Aufschwung und Depression die Folge.
Befeuert werden dadurch aber auch populistische Bewegungen, die längst auf
Regierungsebene angekommen sind und diejenigen Anomien verstärken, die zu
bekämpfen sie angetreten sind.
Moderne Gesellschaften müssen ihre Identität auf permanenten und riskan-
ten Wandel, auf Bewegung, Zerstörung und Wachstum einstellen. Unsicherheit ist
ihre Entwicklungsvoraussetzung. Aber der Innovationsdruck, verbunden mit der
Enttraditionalisierung, bedeutet für immer mehr Menschen nur noch Stress, De-
pression und Wut - Nährboden für jeden Populismus. Und so erwächst aus dem
Modernisierungsmodus des risikoaffinen Möglichkeitsdenkens eine wachsende
Nachfrage nach ideologischen Bewältigungsformen dieser Verunsicherungspro-
zesse. Dies drückt sich, in Zeiten wachsender Entstaatlichung der Daseinsvorsor-
ge, aber auch in der Zunahme zivilgesellschaftlicher Dienstleistungen aus, die von
privater Altersvorsorge bis zu Psychotherapie oder Fitnesskultur reichen. Das heißt
heute private Kontingenzbewältigungskompetenz.
Die in der Moderne aufgebauten Einrichtungen der Sekurität generierten ein
Lebensgefühl, das nicht mehr in religiöser Vergewisserung, sondern in sozialen
Garantien wurzelt. Diese wurden freilich erkauft mit dem Bewusstsein um die
Zufälligkeit des eigenen Handelns und um die Unzuverlässigkeit der staatlichen
Institutionen: An die Stelle religiöser Heilsgarantien trat ein Risikomanagement,
das der Staat für die Gesellschaft und der Bürger für sein Lebensskript zu entwi-
ckeln hatte. Genau diese Strategien brechen heute zusammen. Dies führt zu einer
befremdlichen Diagnose: Die Moderne stellt die Erweiterung des Möglichkeits-
raums auf Dauer, während die Mentalitäten nicht in gleicher Weise mitgewach-
sen sind. Angesichts der Möglichkeiten, die oft nur noch schrecken, verbreiten
sich misstrauische, ungläubige, gelähmte und depressive Stimmungen. Auch dies
stärkt den Populismus.
In traditionalen Gesellschaften war die Religion die zentrale Institution für
Sinnstiftung. Ökonomie war Heilsökonomie: für die Tröstung bei Ängsten und
Katastrophen, für die Bewältigung des allgegenwärtigen Todes und für die ,Ge-
borgenheit4 im Schoß einer Zeit, die jeden Einzelnen in das Heilshandeln Got-
tes zwischen Ursprungsereignis und Endgericht einhegte. Die metaphysische
Rahmenlosigkeit der Moderne hat die Spielräume der Kontingenz und damit die
Räume selbstregulierter Lebensgestaltungen ständig anwachsen lassen - in einer
Radikalität, wie sie niemals zuvor in der Geschichte bestand. Dass dies Angst
oder Wut auslöst, darf nicht verwundern. Damit wurde den Instanzen, die die-
sen Prozess vorantrieben, die Erwartung aufgebürdet, die drohende Sinnleere, die
Unsicherheit und Zukunftsungewissheit, den psychophysischen Stress in einer
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