B. Die Mitglieder
Die existenzielle Verzweiflung Sarlottas, das Aneinander-Vorbei-Reden, die philo-
sophische Frage „Wer bin ich, woher komme ich“, die durch den Biss in die Gur-
ke komisch gebrochen wird, der Hiatus zwischen den Repliken der Figuren und
dem, was sie tun - diese Zeilen und das Aufdecken ihres geheimen Sinns haben
dazu geführt, dass ich in der Slavistik geblieben bin, nicht in der Anglistik oder der
Geschichte.
Der Anfang also: Anton Cechov und ein Seminar über das russische Drama
in Köln. Während meines Studiums machte ich mehrere Bulgarisch-Sprachkur-
se in Sofia (denn nach Bulgarien kam man damals viel leichter als nach Moskau),
verbrachte ein Auslandssemester an der Universität Exeter in Großbritannien,
und nach dem Studium dann doch ein Auslandsjahr in Moskau: 1987/88, es war
ein spannendesJahr, Perestrojka, Veränderungen, die Öffnung in Richtung Wes-
ten. In der Bibliothek war ich in Moskau selten, statt dessen war ich fast täglich
im Theater, im Kino, habe, wie meine russischen Freundinnen und Freunde, die
„dicken Journale“ gelesen, in denen Exilautoren und verbotene Texte erstmals
publiziert wurden, Romane und Erinnerungen, in denen die Schreckensherr-
schaft des Stalinismus aufgearbeitet wurde. Was aus mir werden sollte, war da-
mals noch nicht ganz klar: Theater oder Verlag, das dachte ich mir.
1988, nach meinem Moskau-Aufenthalt, habe ich dann einen Schritt voll-
zogen, der viel folgenreicher war, als ich es mir vorstellen konnte: zur Pro-
motion wechselte ich an die Universität Konstanz, zu Renate Lachmann und
zu Igor‘ Smirnov. Damit tauchte ich in eine Semiosphäre ein, die mich zu-
nächst erschreckte; ich kam in einen Kreis von Wissenschaftlerinnen und Wis-
senschaftlern, deren intellektuelles Leben auf einem Lektürekanon der Theorie
basierte, von dem ich in Köln kaum gehört hatte. Alle kannten sie die russischen
Formalisten, Foucault, Lacan, Derrida, Lotman und Bachtin, dazu schrieben
die Konstanzer selbst die Theorien neu und weiter: Intertextualität, Gedächt-
nis, Phantastik. Völlig fasziniert und ein bisschen im Schock kehrte ich Kon-
stanz zunächst den Rücken und ging für eine Weile nach San Francisco, wo
mein Mann als PostDoc an der UCSF arbeitete. Dort las ich anderthalb Jahre
lang jene Theoretiker, von denen ich in Konstanz zum ersten Mal gehört hatte,
arbeitete in der Bibliothek in Berkeley und besuchte slavistische Tagungen in
Standford. Als ich 1991 nach Konstanz zurückkehrte, war ich besser gewapp-
net, und in diesem intellektuell höchst aufregenden Mikroklima fand ich mei-
ne Themen oder: meine Themen fanden mich. Meine Dissertation habe ich
über Intertextualität und Epochenpoetik bei Aleksandr Blök geschrieben, einen
russischen symbolistischen Dichter, der in Russland ein wichtiger, kanonischer
Autor ist, von dem in Deutschland aber kaum jemand je gehört hat. Damit griff
ich theoretische Ansätze der Intertextualitäts-Debatte auf, die Renate Lachmann
(nicht nur) im slavistischen Kontext weiterentwickelt hat. In Konstanz haben
wir die Schriften Bachtins zur Dialogizität noch einmal neu gelesen, die im
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Die existenzielle Verzweiflung Sarlottas, das Aneinander-Vorbei-Reden, die philo-
sophische Frage „Wer bin ich, woher komme ich“, die durch den Biss in die Gur-
ke komisch gebrochen wird, der Hiatus zwischen den Repliken der Figuren und
dem, was sie tun - diese Zeilen und das Aufdecken ihres geheimen Sinns haben
dazu geführt, dass ich in der Slavistik geblieben bin, nicht in der Anglistik oder der
Geschichte.
Der Anfang also: Anton Cechov und ein Seminar über das russische Drama
in Köln. Während meines Studiums machte ich mehrere Bulgarisch-Sprachkur-
se in Sofia (denn nach Bulgarien kam man damals viel leichter als nach Moskau),
verbrachte ein Auslandssemester an der Universität Exeter in Großbritannien,
und nach dem Studium dann doch ein Auslandsjahr in Moskau: 1987/88, es war
ein spannendesJahr, Perestrojka, Veränderungen, die Öffnung in Richtung Wes-
ten. In der Bibliothek war ich in Moskau selten, statt dessen war ich fast täglich
im Theater, im Kino, habe, wie meine russischen Freundinnen und Freunde, die
„dicken Journale“ gelesen, in denen Exilautoren und verbotene Texte erstmals
publiziert wurden, Romane und Erinnerungen, in denen die Schreckensherr-
schaft des Stalinismus aufgearbeitet wurde. Was aus mir werden sollte, war da-
mals noch nicht ganz klar: Theater oder Verlag, das dachte ich mir.
1988, nach meinem Moskau-Aufenthalt, habe ich dann einen Schritt voll-
zogen, der viel folgenreicher war, als ich es mir vorstellen konnte: zur Pro-
motion wechselte ich an die Universität Konstanz, zu Renate Lachmann und
zu Igor‘ Smirnov. Damit tauchte ich in eine Semiosphäre ein, die mich zu-
nächst erschreckte; ich kam in einen Kreis von Wissenschaftlerinnen und Wis-
senschaftlern, deren intellektuelles Leben auf einem Lektürekanon der Theorie
basierte, von dem ich in Köln kaum gehört hatte. Alle kannten sie die russischen
Formalisten, Foucault, Lacan, Derrida, Lotman und Bachtin, dazu schrieben
die Konstanzer selbst die Theorien neu und weiter: Intertextualität, Gedächt-
nis, Phantastik. Völlig fasziniert und ein bisschen im Schock kehrte ich Kon-
stanz zunächst den Rücken und ging für eine Weile nach San Francisco, wo
mein Mann als PostDoc an der UCSF arbeitete. Dort las ich anderthalb Jahre
lang jene Theoretiker, von denen ich in Konstanz zum ersten Mal gehört hatte,
arbeitete in der Bibliothek in Berkeley und besuchte slavistische Tagungen in
Standford. Als ich 1991 nach Konstanz zurückkehrte, war ich besser gewapp-
net, und in diesem intellektuell höchst aufregenden Mikroklima fand ich mei-
ne Themen oder: meine Themen fanden mich. Meine Dissertation habe ich
über Intertextualität und Epochenpoetik bei Aleksandr Blök geschrieben, einen
russischen symbolistischen Dichter, der in Russland ein wichtiger, kanonischer
Autor ist, von dem in Deutschland aber kaum jemand je gehört hat. Damit griff
ich theoretische Ansätze der Intertextualitäts-Debatte auf, die Renate Lachmann
(nicht nur) im slavistischen Kontext weiterentwickelt hat. In Konstanz haben
wir die Schriften Bachtins zur Dialogizität noch einmal neu gelesen, die im
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