Antrittsrede von Schamma Schahadat
Westen durch die Lektüre Julia Kristevas eine bestimmte, man könnte sagen:
französische Lesart erfahren hatten.
In meiner Habilitationsschrift habe ich mich dann in eine Richtung orientiert,
die bis heute meine Arbeit prägt: ich arbeite eher kulturwissenschaftlich als poe-
tologisch und bin dabei doch fest in der Konstanzer Tradition verankert. Der eben
schon genannten Renate Lachmann ist es zu verdanken, dass die russische und so-
wjetische Literaturtheorie in der Konstanzer Literaturwissenschaft ebenso intensiv
rezipiert wurde wie die französische und die angloamerikanische; Michail Bachtin
und Jurij Lotman waren (und sind) genauso wichtig wie Foucault oder Derrida.
Ach ja, das Thema meiner Habilitationsschrift: Das Leben zur Kunst machen.
Lebenskunst in Russland vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. In diesem Buch habe ich
mich mit den Übersetzungen, Transformationen und Umschreibungen zwischen
Leben und Text befasst, zum Beispiel damit, wie Ivan der Schreckliche Märchen-
motive in Folterformen verwandelte und diese reale Folter in seinen Sendschrei-
ben in eine Textfolter transformierte. Oder wie die Licbesdreiecke der russischen
Symbolisten zunächst in der Realität ausgelebt, dann christlich interpretiert und
schließlich in Romanform fiktionalisiert wurden - um dann wieder zurück auf
das Leben zu wirken, wenn die realen Menschen das Leben der Romanfiguren
vorwegzunehmen oder nachzuleben versuchten.
Dabei ist die kulturwissenschaftliche Methode keineswegs eine Erfindung
der westeuropäischen und angloamerikanischen Theoriediskurse, sondern sie
geht geradewegs zurück auf den Ursprung der modernen Literaturtheorie, auf den
russischen Formalismus. Denn was in der gegenwärtigen literaturtheoretischen
Debatte unter „Kulturwissenschaften“ oder „cultural studies“ gefasst ist, hat einige
Vorläufer im russischen Formalismus und in der Moskau-Tartuer Kultursemiotik,
die, wenngleich sie von der westlichen Forschung wenig zur Kenntnis genommen
werden, dennoch in die gleiche Richtung zielen: die Formalisten haben in den
1920er Jahre den literaturnyj byt, den literarischen Alltag, unter die Lupe genommen
und sich in ihren Arbeiten mit der biographischen und literarischen Persönlichkeit
des Autors befasst. Im Rahmen der Moskau-Tartu-Schule hat Jurij Lotman seit den
1960er Jahren die Verhaltenspoetik untersucht, auf Russisch: poetika povedenija
und er hat dabei romantische gegen realistische Verhaltenstypen gestellt. Ähnlich
haben - ebenfalls anschließend an den Formalismus - Lidija Ginzburg und Irina
Paperno zur Konstruktion der literarischen persona im Stankevic-Kreis und bei den
russischen Nihilisten gearbeitet. Stephen Greenblatt mit seiner poetics of culture, der
sich auf das self-fashioning der Renaissance konzentriert, greift die russischen Theo-
rien zwar nicht auf, denkt aber in eine ganz ähnliche Richtung - hier haben wir ein
gutes Beispiel für „travelling theories“ vorliegen.
Jetzt habe ich ziemlich lange gebraucht, um bis ins neue Jahrtausend zu kom-
men, und bin auch schon fast am Ende. Was gibt es noch zu sagen? Seit 2004 also
bin ich an der Universität Tübingen, und dabei ist es mir gelungen, meiner akade-
161
Westen durch die Lektüre Julia Kristevas eine bestimmte, man könnte sagen:
französische Lesart erfahren hatten.
In meiner Habilitationsschrift habe ich mich dann in eine Richtung orientiert,
die bis heute meine Arbeit prägt: ich arbeite eher kulturwissenschaftlich als poe-
tologisch und bin dabei doch fest in der Konstanzer Tradition verankert. Der eben
schon genannten Renate Lachmann ist es zu verdanken, dass die russische und so-
wjetische Literaturtheorie in der Konstanzer Literaturwissenschaft ebenso intensiv
rezipiert wurde wie die französische und die angloamerikanische; Michail Bachtin
und Jurij Lotman waren (und sind) genauso wichtig wie Foucault oder Derrida.
Ach ja, das Thema meiner Habilitationsschrift: Das Leben zur Kunst machen.
Lebenskunst in Russland vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. In diesem Buch habe ich
mich mit den Übersetzungen, Transformationen und Umschreibungen zwischen
Leben und Text befasst, zum Beispiel damit, wie Ivan der Schreckliche Märchen-
motive in Folterformen verwandelte und diese reale Folter in seinen Sendschrei-
ben in eine Textfolter transformierte. Oder wie die Licbesdreiecke der russischen
Symbolisten zunächst in der Realität ausgelebt, dann christlich interpretiert und
schließlich in Romanform fiktionalisiert wurden - um dann wieder zurück auf
das Leben zu wirken, wenn die realen Menschen das Leben der Romanfiguren
vorwegzunehmen oder nachzuleben versuchten.
Dabei ist die kulturwissenschaftliche Methode keineswegs eine Erfindung
der westeuropäischen und angloamerikanischen Theoriediskurse, sondern sie
geht geradewegs zurück auf den Ursprung der modernen Literaturtheorie, auf den
russischen Formalismus. Denn was in der gegenwärtigen literaturtheoretischen
Debatte unter „Kulturwissenschaften“ oder „cultural studies“ gefasst ist, hat einige
Vorläufer im russischen Formalismus und in der Moskau-Tartuer Kultursemiotik,
die, wenngleich sie von der westlichen Forschung wenig zur Kenntnis genommen
werden, dennoch in die gleiche Richtung zielen: die Formalisten haben in den
1920er Jahre den literaturnyj byt, den literarischen Alltag, unter die Lupe genommen
und sich in ihren Arbeiten mit der biographischen und literarischen Persönlichkeit
des Autors befasst. Im Rahmen der Moskau-Tartu-Schule hat Jurij Lotman seit den
1960er Jahren die Verhaltenspoetik untersucht, auf Russisch: poetika povedenija
und er hat dabei romantische gegen realistische Verhaltenstypen gestellt. Ähnlich
haben - ebenfalls anschließend an den Formalismus - Lidija Ginzburg und Irina
Paperno zur Konstruktion der literarischen persona im Stankevic-Kreis und bei den
russischen Nihilisten gearbeitet. Stephen Greenblatt mit seiner poetics of culture, der
sich auf das self-fashioning der Renaissance konzentriert, greift die russischen Theo-
rien zwar nicht auf, denkt aber in eine ganz ähnliche Richtung - hier haben wir ein
gutes Beispiel für „travelling theories“ vorliegen.
Jetzt habe ich ziemlich lange gebraucht, um bis ins neue Jahrtausend zu kom-
men, und bin auch schon fast am Ende. Was gibt es noch zu sagen? Seit 2004 also
bin ich an der Universität Tübingen, und dabei ist es mir gelungen, meiner akade-
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