Heidelberger Akademievorlesung
Skulptur Goethes um die Neuschöpfung eines Mythos, der seine emblematischen
Voraussetzungen tilgt. Die Pointe der Skulptur ist, dass Agathe Tyche keinerlei ein-
deutigen emblematischen Sinn trägt: Das ist die Funktion dieser einzigartigen Ab-
straktion.
Bis auf die Ebene des praktischen Lebens hinunter, das wir gern mit Lebens-
führung verwechseln, obwohl sie mit dem Zufall geteilt wird, hat Goethe in der
Agathe Tydte die Transformation der Fortuna zur Kontingenz vollzogen, und zwar
gerade durch die Abstraktion der Form. Wenn Goethe an Lavater 1779 schreibt,
dass „sowohl auf dieser Reise als im ganzen Leben [...] wir diesen Gottheiten
sehr zu Schuldnern geworden“2 seien, der Herzog und er also „Glück“ hatten;
und wenn er das Unstete der Reisebewegung als etwas Unwillkürliches charak-
terisiert, dann nehmen wir an einer epochalen Erkenntniswende teil: Das Sub-
jekt mag intentional seine Schritte lenken wollen - wie und wohin diese Schritte
führen, liegt nicht in der Verfügung eben dieses Subjekts. Goethe täuscht sich
also nicht über die mannigfachen zufälligen und fremdbestimmten Konditionen
jedweder Handlung. Für Goethe war schon klar, was dann als große Entdeckung
Sigmund Freuds dastehen wird, dass nämlich das Ich „nicht einmal Herr ist im
eigenen Hause“ (Freud 1915 — 7/1982, Bd. I, 284). Das Ich ist nicht Herr im ei-
genen Haus. Und daran hat nicht nur das Unbewusste, sondern auch der Zu-
fall einen entscheidenden Anteil. Es sind gleichsam Impulse aus dem Souterrain
unserer Handlungsbühnen, auf denen wir im Schein unserer Autonomie agie-
ren. Nicht nur jede Handlung, sondern das Subjekt selbst ist kontingent. Diese
Kontingenz ist nicht aufzuheben, man kann sie nur reflektieren und vielleicht
gestalten.
Für Reinhart Koselleck (1979) jedoch ist der Zufall eine reine Gegenwarts-
kategorie, darum für den Historiker ein Grenzbegriff. Ist der Zufall gewesen,
so wird er postfestum vom Historiker beobachtet und kontextuell eingebunden.
Tritt der Zufall hingegen gerade jetzt ein oder kommt er aus der Zukunft auf uns
zu, so ist er per se nicht Gegenstand des Historikers. So ist der Zufall für Kosel-
leck eine „unhistorische Kategorie“. „Das Bestürzende, das Neue, das Unvor-
hersehbare“, das bloß Ereignishafte und Zufällige gehört nicht zur Geschichte
(Koselleck 1979, 159). Indes kann man auch das Gegenteil behaupten: Wenn das
Zufällige aus der Geschichte ausgeschlossen wird, haben wir Geschichte nicht
verstanden und hängen den Phantomen eines Intentionalismus, einer versteck-
ten Theodizee, einer völligen Verfügbarkeit der Geschichte oder einem Struktu-
ralismus an.3
2 Goethe: Brief an Lavater vom 2. u. 5. Dezember 1779 (In: Goethe 1982, Bd. 1, 289).
3 Zu einer über Koselleck hinausführenden geschichtstheoretische Diskussion des Zufalls in
der Geschichte vgl. Hoffmann 2005, Vogt 2011.
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Skulptur Goethes um die Neuschöpfung eines Mythos, der seine emblematischen
Voraussetzungen tilgt. Die Pointe der Skulptur ist, dass Agathe Tyche keinerlei ein-
deutigen emblematischen Sinn trägt: Das ist die Funktion dieser einzigartigen Ab-
straktion.
Bis auf die Ebene des praktischen Lebens hinunter, das wir gern mit Lebens-
führung verwechseln, obwohl sie mit dem Zufall geteilt wird, hat Goethe in der
Agathe Tydte die Transformation der Fortuna zur Kontingenz vollzogen, und zwar
gerade durch die Abstraktion der Form. Wenn Goethe an Lavater 1779 schreibt,
dass „sowohl auf dieser Reise als im ganzen Leben [...] wir diesen Gottheiten
sehr zu Schuldnern geworden“2 seien, der Herzog und er also „Glück“ hatten;
und wenn er das Unstete der Reisebewegung als etwas Unwillkürliches charak-
terisiert, dann nehmen wir an einer epochalen Erkenntniswende teil: Das Sub-
jekt mag intentional seine Schritte lenken wollen - wie und wohin diese Schritte
führen, liegt nicht in der Verfügung eben dieses Subjekts. Goethe täuscht sich
also nicht über die mannigfachen zufälligen und fremdbestimmten Konditionen
jedweder Handlung. Für Goethe war schon klar, was dann als große Entdeckung
Sigmund Freuds dastehen wird, dass nämlich das Ich „nicht einmal Herr ist im
eigenen Hause“ (Freud 1915 — 7/1982, Bd. I, 284). Das Ich ist nicht Herr im ei-
genen Haus. Und daran hat nicht nur das Unbewusste, sondern auch der Zu-
fall einen entscheidenden Anteil. Es sind gleichsam Impulse aus dem Souterrain
unserer Handlungsbühnen, auf denen wir im Schein unserer Autonomie agie-
ren. Nicht nur jede Handlung, sondern das Subjekt selbst ist kontingent. Diese
Kontingenz ist nicht aufzuheben, man kann sie nur reflektieren und vielleicht
gestalten.
Für Reinhart Koselleck (1979) jedoch ist der Zufall eine reine Gegenwarts-
kategorie, darum für den Historiker ein Grenzbegriff. Ist der Zufall gewesen,
so wird er postfestum vom Historiker beobachtet und kontextuell eingebunden.
Tritt der Zufall hingegen gerade jetzt ein oder kommt er aus der Zukunft auf uns
zu, so ist er per se nicht Gegenstand des Historikers. So ist der Zufall für Kosel-
leck eine „unhistorische Kategorie“. „Das Bestürzende, das Neue, das Unvor-
hersehbare“, das bloß Ereignishafte und Zufällige gehört nicht zur Geschichte
(Koselleck 1979, 159). Indes kann man auch das Gegenteil behaupten: Wenn das
Zufällige aus der Geschichte ausgeschlossen wird, haben wir Geschichte nicht
verstanden und hängen den Phantomen eines Intentionalismus, einer versteck-
ten Theodizee, einer völligen Verfügbarkeit der Geschichte oder einem Struktu-
ralismus an.3
2 Goethe: Brief an Lavater vom 2. u. 5. Dezember 1779 (In: Goethe 1982, Bd. 1, 289).
3 Zu einer über Koselleck hinausführenden geschichtstheoretische Diskussion des Zufalls in
der Geschichte vgl. Hoffmann 2005, Vogt 2011.
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