III. Veranstaltungen
Im Christentum werden Fortuna und Zufall durch die göttliche Providentia ent-
mächtigt: das Leben, in welchem der arme Sterbliche schuldig wird, unterliegt
nicht nur dem Vorherwissen, sondern auch der Vorherbestimmung Gottes (Prä-
destination) (Reichlin 2010). Im Reich Gottes kann es keinen Zufall, wohl aber
Freiheit geben, die in uns zum Bösen oder zum Guten ausschlagen kann. Kluge
Abwägung ist das einzige Navigationsmittel, über das wir im Chaos der irdischen
Welt verfügen. Doch als endliche und fehlbare Wesen bleiben wir auf die Gnade
(gratia) Gottes angewiesen. Alle diese Vermögen - Providentia, Prädestination, Gra-
tia und Prudentia - sind die christlichen Gegenmittel gegen die mächtige Fortuna
und gegen die Unordnung des Zufalls. Dies ist eine Welt ohne Scheitern. Man
kann Unglück haben oder sündigen, fehlbar sein und einer dämonischen Macht
unterliegen; aber man kann nicht scheitern. Und das Gegenteil des Scheiterns,
nämlich das Gelingen, ist ein Sich-Bewähren in einer Welt, die eine Kette von
Proben darstellt (z. B. Artus-Epik).
Seit dem 16. Jahrhundert indes beobachten wir, dass die Spielräume des Zu-
falls zunehmen, damit aber auch die Möglichkeit des Scheiterns, das immer mehr
ins Kalkül der Handlungen einbezogen wird: Es entsteht der Begriff des Risikos,
zuerst in den Handels- und Bankregionen Italiens. Auch die Seefahrt wird zu ei-
nem Operationsfeld, das von Risikoabwägungen, die Spekulation, Mut, Abenteu-
erei und Todesgefahr einschließen, bestimmt wird.
So erinnert Aby Warburg daran, dass Fortuna im Italienischen „nicht nur
,Zufall4 und ,Vermögen‘, sondern auch ,Sturmwind4“ bedeutet, „ein unheimlicher
Winddämon44, wie Francesco Sassetti formuliert (Warburg 1907/1992, 148). Das
Meer ist das Risikoelement überhaupt, aber auch das Medium der Raumexpansion,
des Handels und der Nachrichten (Wolf 2013). Darum ist Fortuna mit der Nautik
so verbunden, mal als Mast die Segel, mal das Steuerruder haltend, mal den Schiff-
bruch auslösend, mal das Füllhorn mit sich führend. Ihr mariner Charakter wird in
der Renaissance betont und passt gut zu der ozeanischen Dimension, in die Europa
1492 eingetreten war. Risikofreude ist die neue Tugend. Verlust und Gewinn auf
dem Meer werden zu Gegenständen kalkulierender Abwägung der Versicherungen
sowie der Risikodiversifikation. Die Flüchtigkeit der Fortuna, das liquide Meer und
die Mobilität des Kapitals entsprechen sich. Dem Risiko von Schiffsuntergängen
wird gekontert mit exponentieller Rendite bei glücklicher Heimkehr. Fortuna, die
als Oaasio (oder Kaipoc;) beim Schopfe gepackt werden muss4, ist die Göttin des
modernen, auf dem Weltplan agierenden Entrepreneurs. (Abb. 4)
Die Säulen des Herkules waren seit Pindar (3. Nemeische Ode) Symbole einer
verbotenen Welt. Mit ihrer Errichtung hatte Herkules, indem er den Atlantik men-
tal verschloss, den antiken Kulturkreis bestimmt: Non plus ultra. Spätestens 1492
4 Cordie 2001, bes. 177 — 207: „Schiffe verschwinden und ein Buch erscheint: Ökonomische
Lebenspraxis und allegorische Zeichenpraxis“.
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Im Christentum werden Fortuna und Zufall durch die göttliche Providentia ent-
mächtigt: das Leben, in welchem der arme Sterbliche schuldig wird, unterliegt
nicht nur dem Vorherwissen, sondern auch der Vorherbestimmung Gottes (Prä-
destination) (Reichlin 2010). Im Reich Gottes kann es keinen Zufall, wohl aber
Freiheit geben, die in uns zum Bösen oder zum Guten ausschlagen kann. Kluge
Abwägung ist das einzige Navigationsmittel, über das wir im Chaos der irdischen
Welt verfügen. Doch als endliche und fehlbare Wesen bleiben wir auf die Gnade
(gratia) Gottes angewiesen. Alle diese Vermögen - Providentia, Prädestination, Gra-
tia und Prudentia - sind die christlichen Gegenmittel gegen die mächtige Fortuna
und gegen die Unordnung des Zufalls. Dies ist eine Welt ohne Scheitern. Man
kann Unglück haben oder sündigen, fehlbar sein und einer dämonischen Macht
unterliegen; aber man kann nicht scheitern. Und das Gegenteil des Scheiterns,
nämlich das Gelingen, ist ein Sich-Bewähren in einer Welt, die eine Kette von
Proben darstellt (z. B. Artus-Epik).
Seit dem 16. Jahrhundert indes beobachten wir, dass die Spielräume des Zu-
falls zunehmen, damit aber auch die Möglichkeit des Scheiterns, das immer mehr
ins Kalkül der Handlungen einbezogen wird: Es entsteht der Begriff des Risikos,
zuerst in den Handels- und Bankregionen Italiens. Auch die Seefahrt wird zu ei-
nem Operationsfeld, das von Risikoabwägungen, die Spekulation, Mut, Abenteu-
erei und Todesgefahr einschließen, bestimmt wird.
So erinnert Aby Warburg daran, dass Fortuna im Italienischen „nicht nur
,Zufall4 und ,Vermögen‘, sondern auch ,Sturmwind4“ bedeutet, „ein unheimlicher
Winddämon44, wie Francesco Sassetti formuliert (Warburg 1907/1992, 148). Das
Meer ist das Risikoelement überhaupt, aber auch das Medium der Raumexpansion,
des Handels und der Nachrichten (Wolf 2013). Darum ist Fortuna mit der Nautik
so verbunden, mal als Mast die Segel, mal das Steuerruder haltend, mal den Schiff-
bruch auslösend, mal das Füllhorn mit sich führend. Ihr mariner Charakter wird in
der Renaissance betont und passt gut zu der ozeanischen Dimension, in die Europa
1492 eingetreten war. Risikofreude ist die neue Tugend. Verlust und Gewinn auf
dem Meer werden zu Gegenständen kalkulierender Abwägung der Versicherungen
sowie der Risikodiversifikation. Die Flüchtigkeit der Fortuna, das liquide Meer und
die Mobilität des Kapitals entsprechen sich. Dem Risiko von Schiffsuntergängen
wird gekontert mit exponentieller Rendite bei glücklicher Heimkehr. Fortuna, die
als Oaasio (oder Kaipoc;) beim Schopfe gepackt werden muss4, ist die Göttin des
modernen, auf dem Weltplan agierenden Entrepreneurs. (Abb. 4)
Die Säulen des Herkules waren seit Pindar (3. Nemeische Ode) Symbole einer
verbotenen Welt. Mit ihrer Errichtung hatte Herkules, indem er den Atlantik men-
tal verschloss, den antiken Kulturkreis bestimmt: Non plus ultra. Spätestens 1492
4 Cordie 2001, bes. 177 — 207: „Schiffe verschwinden und ein Buch erscheint: Ökonomische
Lebenspraxis und allegorische Zeichenpraxis“.
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