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BUA 11,1
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[14] Ich sah auch einen anderen hervorragenden Mann desselben Ordens in
Gent, Ägidius mit Namen, der einst Kanoniker in Saint-Omer in Flandern
war;18 er verließ die Welt und soll sich, als er dem Predigerorden beitrat, so
sehr den Tränen hingegeben haben, soll so sehr von geistiger Freude und
Eifer für die Seelen erfüllt gewesen sein, dass er wahrlich für einen Heiligen 5
gehalten wurde und es auch war. Und dies zeigte sein Tod. Als nämlich sein
leiblicher Bruder im Kloster der Brüder begraben wurde, lag der über ihn
gestellte Marmorblock schlecht und musste korrigiert werden. „Lasst es
sein, Brüder“, sagte er, „lasst es sein, er wird nicht lange unbewegt liegen“,
und er verkündete damit offenbar, dass er demnächst mit dem verstorbenen 10
Bruder unter demselben Stein begraben werden solle. Und so geschah es
auch. Aber mir berichtete ein gewisser Bruder, der sich, wie ich von ihm
erfahren habe, vor ihm selbst am Tag nahe seines Todes niedersetzte, dass
dieser ihm, als er fragte, wie er sich fühle, antwortete und sagte: „Gut,
liebster Bruder, gut fühle ich mich, weil ich, wenn ich sterbe, nur für drei 15
Tage durch das Fegefeuer gereinigt werde und sofort danach durch die
Barmherzigkeit Gottes zum Ruhm hinaufsteige.“
[15] || Ich habe auch einen anderen heiligen Mann dieses Ordens gesehen, der
schon sehr betagt war, Dodo mit Namen und aus dem Geschlecht der Friesen.19
Dieser hat durch emsiges Predigen bei seinem Volk der Friesen so viel bewirkt, dass 20
er dieses von seiner Wildheit abbringen und besänftigen konnte. Von der ältesten
Zeit an hatten diese Friesen Folgendes als ungeheuerlichen Brauch, dass nach der
Tötung eines Menschen aus der einen Sippe durch eine andere der getötete Körper
nicht bestattet wurde, sondern aufgerichtet in einem Sarg aufbewahrt und zu Hause
ausgetrocknet wurde, bis die Sippe zur Rache des Getöteten viele aus der 25
feindlichen Sippe oder wenigstens einen zum Ausgleich fiär den Toten
niedermetzelte. Dann erst übergab sie ihren Toten mit viel Feierlichkeit dem
verdienten Grab. Diese höchst grausame und unerhörte Sitte schaffte der genannte
Bruder in jenem Volk ab, und brachte sie durch wiederholte Ermahnungen in einen
milderen Zustand. || 30
^Offenbar Ägidius von Saint-Omer OP, Mitglied des Dominikanerkonvents von Gent. S. für
weitere Informationen Thom. Cantimpr. BUA 1,22,2. | 19Offenbar Dodo Friso OP, für dessen
Lebensgeschichte die Darstellung des Thomas von Cantimpre die früheste Quelle ist. S. hierzu
HÄUPTLI, Art. „Dodo Friso". Spekuliert wurde zudem, ob es sich bei dem von Thomas
beschriebenen Dodo um Dodo von Hascha OPraem (gest. um 1231), Mitglied der
Norbertinenabtei Mariengaarde (bei Hallum), handelt. S. hierzu NlP, Vita Dodonis, sowie
PLATELLE, Le ministere pastoral, S. 91.
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[14] Ich sah auch einen anderen hervorragenden Mann desselben Ordens in
Gent, Ägidius mit Namen, der einst Kanoniker in Saint-Omer in Flandern
war;18 er verließ die Welt und soll sich, als er dem Predigerorden beitrat, so
sehr den Tränen hingegeben haben, soll so sehr von geistiger Freude und
Eifer für die Seelen erfüllt gewesen sein, dass er wahrlich für einen Heiligen 5
gehalten wurde und es auch war. Und dies zeigte sein Tod. Als nämlich sein
leiblicher Bruder im Kloster der Brüder begraben wurde, lag der über ihn
gestellte Marmorblock schlecht und musste korrigiert werden. „Lasst es
sein, Brüder“, sagte er, „lasst es sein, er wird nicht lange unbewegt liegen“,
und er verkündete damit offenbar, dass er demnächst mit dem verstorbenen 10
Bruder unter demselben Stein begraben werden solle. Und so geschah es
auch. Aber mir berichtete ein gewisser Bruder, der sich, wie ich von ihm
erfahren habe, vor ihm selbst am Tag nahe seines Todes niedersetzte, dass
dieser ihm, als er fragte, wie er sich fühle, antwortete und sagte: „Gut,
liebster Bruder, gut fühle ich mich, weil ich, wenn ich sterbe, nur für drei 15
Tage durch das Fegefeuer gereinigt werde und sofort danach durch die
Barmherzigkeit Gottes zum Ruhm hinaufsteige.“
[15] || Ich habe auch einen anderen heiligen Mann dieses Ordens gesehen, der
schon sehr betagt war, Dodo mit Namen und aus dem Geschlecht der Friesen.19
Dieser hat durch emsiges Predigen bei seinem Volk der Friesen so viel bewirkt, dass 20
er dieses von seiner Wildheit abbringen und besänftigen konnte. Von der ältesten
Zeit an hatten diese Friesen Folgendes als ungeheuerlichen Brauch, dass nach der
Tötung eines Menschen aus der einen Sippe durch eine andere der getötete Körper
nicht bestattet wurde, sondern aufgerichtet in einem Sarg aufbewahrt und zu Hause
ausgetrocknet wurde, bis die Sippe zur Rache des Getöteten viele aus der 25
feindlichen Sippe oder wenigstens einen zum Ausgleich fiär den Toten
niedermetzelte. Dann erst übergab sie ihren Toten mit viel Feierlichkeit dem
verdienten Grab. Diese höchst grausame und unerhörte Sitte schaffte der genannte
Bruder in jenem Volk ab, und brachte sie durch wiederholte Ermahnungen in einen
milderen Zustand. || 30
^Offenbar Ägidius von Saint-Omer OP, Mitglied des Dominikanerkonvents von Gent. S. für
weitere Informationen Thom. Cantimpr. BUA 1,22,2. | 19Offenbar Dodo Friso OP, für dessen
Lebensgeschichte die Darstellung des Thomas von Cantimpre die früheste Quelle ist. S. hierzu
HÄUPTLI, Art. „Dodo Friso". Spekuliert wurde zudem, ob es sich bei dem von Thomas
beschriebenen Dodo um Dodo von Hascha OPraem (gest. um 1231), Mitglied der
Norbertinenabtei Mariengaarde (bei Hallum), handelt. S. hierzu NlP, Vita Dodonis, sowie
PLATELLE, Le ministere pastoral, S. 91.