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BUA 11,11
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11. „Alle bewohnen ein Haus.“ Ihre Natur duldet es nämlich nicht, dass
sie getrennt werden.
[1] Es ist für alle glaubhaft, dass es für die Gläubigen am sichersten ist,
wenn alle ein Haus bewohnen. Daher sagt David: „Sieh wie gut und wie
erfreulich, dass die Brüder zusammen leben.“ Wütende Pferde nämlich 5
werden an einem Ort sehr zahm. Und wiederum sagt David: „Er lässt die in
einem Haus wohnen, die demselben Brauch nachgehen.“ Dies ist gegen die
Gewohnheiten gewisser Klöster, die ihre Mönche oder Kleriker, wie ich so
sagen möchte, als ob sie Regularkanoniker wären, an Höfe oder in Pfarreien
schicken und sie alleine zurücklassen, und es ist ein Exempel gegen den 10
Herrn aller Rechtmäßigkeit und Tugend selbst, der die Seinigen „zwei und
zwei geschickt hat“. Wehe dem, der allein ist, wie Salomon sagt, weil er ja,
„falls er fällt, keinen haben wird, der ihn aufhebt.“ Wie wahr dieser
Sinnspruch ist, weiß ich, der ich dreißig Jahre lang und noch länger in
Vertretung des Bischofs in verschiedenen Diözesen gewirkt habe1; 15
hinsichtlich dieses Artikels, wonach die Religiösen entweder allein auf
Straßen reisen oder allein an Kurien bleiben, habe ich oft von schrecklichen
Übeltaten, schrecklichen Skandalen und schrecklichen Gefahren gehört, die
sie mit einem Gefährten an der Seite nie auf sich genommen oder getan
hätten.2 20
[2] Aber auch der erlauchteste Vater Augustinus3 hat in seiner Regel
festgestellt, dass nicht „weniger als zwei oder drei“, wo auch immer sie es
für nötig erachten, gehen sollen. In diesem Artikel wird also befunden, dass
fast alle Regularorden schwer gegen ihr Gelübde und ihre Regel sündigen,
die die Ihrigen allein und nicht zusammen auf den Weg schicken. Auch 25
wenn sie aber sagen, wie ich höre und sie mir häufiger entgegengehalten
haben, dass dies nicht hinsichtlich des Bruders als Gefährten zu verstehen
'Zwr Tätigkeit des Thomas von Cantimpre als Prediger, Beichtvater und Seelsorger s. die
Ausführungen in Kapitel 1 der Einleitung zur Edition. | Auf programmatische Weise werden in
diesem Kapitel die unterschiedlichen Lebensformen von Mönchen und Bettelbrüdern
akzentuiert: So war es bei den Franziskanern und Dominikanern üblich, mit einem socius auf
Reisen zu gehen. Gleichzeitig wurde die Wanderschaft, ein Wesensmerkmal beider Orden, stark
durch Gehorsamsgebote gegenüber den Ordensoberen reguliert. Zu monastischem bzw.
mendikantischein Reisen s. SONNTAG, Klosterleben, S. 615-621 sowie MERTENS, Evangelische
Wanderschaft: zur Polemik gegenüber Mendikanten s. SICKERT, Wenn Klosterbrüder, S. 184-
199. | V//. Augustinus (354-430), Kirchenlehrer, seit 396 Bischof von Flippo Regius. S. für
weitere Informationen Thom. Cantimpr. BUA 1,1,1.
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11. „Alle bewohnen ein Haus.“ Ihre Natur duldet es nämlich nicht, dass
sie getrennt werden.
[1] Es ist für alle glaubhaft, dass es für die Gläubigen am sichersten ist,
wenn alle ein Haus bewohnen. Daher sagt David: „Sieh wie gut und wie
erfreulich, dass die Brüder zusammen leben.“ Wütende Pferde nämlich 5
werden an einem Ort sehr zahm. Und wiederum sagt David: „Er lässt die in
einem Haus wohnen, die demselben Brauch nachgehen.“ Dies ist gegen die
Gewohnheiten gewisser Klöster, die ihre Mönche oder Kleriker, wie ich so
sagen möchte, als ob sie Regularkanoniker wären, an Höfe oder in Pfarreien
schicken und sie alleine zurücklassen, und es ist ein Exempel gegen den 10
Herrn aller Rechtmäßigkeit und Tugend selbst, der die Seinigen „zwei und
zwei geschickt hat“. Wehe dem, der allein ist, wie Salomon sagt, weil er ja,
„falls er fällt, keinen haben wird, der ihn aufhebt.“ Wie wahr dieser
Sinnspruch ist, weiß ich, der ich dreißig Jahre lang und noch länger in
Vertretung des Bischofs in verschiedenen Diözesen gewirkt habe1; 15
hinsichtlich dieses Artikels, wonach die Religiösen entweder allein auf
Straßen reisen oder allein an Kurien bleiben, habe ich oft von schrecklichen
Übeltaten, schrecklichen Skandalen und schrecklichen Gefahren gehört, die
sie mit einem Gefährten an der Seite nie auf sich genommen oder getan
hätten.2 20
[2] Aber auch der erlauchteste Vater Augustinus3 hat in seiner Regel
festgestellt, dass nicht „weniger als zwei oder drei“, wo auch immer sie es
für nötig erachten, gehen sollen. In diesem Artikel wird also befunden, dass
fast alle Regularorden schwer gegen ihr Gelübde und ihre Regel sündigen,
die die Ihrigen allein und nicht zusammen auf den Weg schicken. Auch 25
wenn sie aber sagen, wie ich höre und sie mir häufiger entgegengehalten
haben, dass dies nicht hinsichtlich des Bruders als Gefährten zu verstehen
'Zwr Tätigkeit des Thomas von Cantimpre als Prediger, Beichtvater und Seelsorger s. die
Ausführungen in Kapitel 1 der Einleitung zur Edition. | Auf programmatische Weise werden in
diesem Kapitel die unterschiedlichen Lebensformen von Mönchen und Bettelbrüdern
akzentuiert: So war es bei den Franziskanern und Dominikanern üblich, mit einem socius auf
Reisen zu gehen. Gleichzeitig wurde die Wanderschaft, ein Wesensmerkmal beider Orden, stark
durch Gehorsamsgebote gegenüber den Ordensoberen reguliert. Zu monastischem bzw.
mendikantischein Reisen s. SONNTAG, Klosterleben, S. 615-621 sowie MERTENS, Evangelische
Wanderschaft: zur Polemik gegenüber Mendikanten s. SICKERT, Wenn Klosterbrüder, S. 184-
199. | V//. Augustinus (354-430), Kirchenlehrer, seit 396 Bischof von Flippo Regius. S. für
weitere Informationen Thom. Cantimpr. BUA 1,1,1.