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BUA 11,23
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23. Bei den Bienen wirst du fast immer Zeichen für vollständige Tugend
finden, und was bei anderen Tieren einzeln verbreitet zu sein scheint,
das hat Mutter Natur in diesen durch eine gnädigere Wohltat vereinigt.
[1] Durch diese wird freilich jene, wenn dies zu sagen gestattet ist,
glückliche Mutter Christi, Maria, bezeichnet, zu der der Weise wahrhaftig 5
und feinsinnig sagt: „Viele Töchter vereinigten Reichtümer, du hast sie alle
übertroffen.“ Auch du, fromme Seele, mögest dich entsprechend deiner
Fähigkeit bemühen, sie nachzuahmen. Wenn du es wahrhaft versuchst, wirst
du auf lange Sicht nicht enttäuscht werden.
[2] Wie große, wie beschaffene und welche Tugenden es gibt, wird durch 10
die gesamte Heilige Schrift bezeugt. Aber wir haben sie auch durch
verschiedene, oben erwähnte Kapitel beschrieben.1 Es sagt aber der größte
Philosoph Augustinus:2 Der Ursprung der Tugend ist ja vielmehr die
höchste Tugend, „die Tugend zu lieben.“ Und Seneca3 sagt in den
Sprichworten: „Du weißt, dass derjenige an vielen Tugenden Überfluss hat, 15
der fremde Tugenden hebt.“ „Ich verstehe diejenige als die wahre, eifrige
und vorzügliche Tugend, die anspomt, was sie bedroht.“ „Nicht die Natur
gibt die Tugend, sondern es ist eine Fertigkeit, dass Gutes geschieht.“
„Wenn die Tugend erreichen kann, dass einer nicht elend ist, wird sie es
leichter erreichen, dass er sehr glücklich ist. Es bleibt nämlich ein kleinerer 20
Abstand vom Glücklichen zum sehr Glücklichen, als vom Elenden zum
Glücklichen.“ „Seelen, die durch Ermahnung angeregt werden, bringen
nämlich die Samen aller ehrenhaften Dinge hervor, nicht anders als ein
entbrannter Funke, unterstützt durch einen leichten Hauch, sein Feuer
entfacht. Die Tugend wird nämlich aufgerichtet, wenn sie berührt und 25
angestoßen wird.“ „Die Tugend ist sowohl die Wissenschaft der anderen als
auch ihrer selbst. Über sie selbst muss etwas gelernt werden, damit sie selbst
auch gelernt wird.“ „Die Ruhe tritt nicht ein, wenn du nicht etwas
Unveränderliches und Sicheres erreichst“, und das ist Gott. „Ich folge jenem
1Vgl. Thom. Cantimpr BUA 11,12; ebd., 11,13; ebd., 11,15 sowie ebd. 11,17. S. zur
Charakterisierung des Bienenvolks auch Kapitel II.3.2. der Einleitung zur Edition. | 2Hl.
Augustinus (354-430), Kirchenlehrer, seit 396 Bischof von Hippo Regius. S. für weitere
Informationen Thom. Cantimpr. BUA 1,1,1. | 3Lucius Annaeus Seneca der Jüngere (gest. 65 n.
Chr), Politiker und Philosoph. S. für weitere Informationen Thom. Cantimpr. BUA 1,1,1. Zum
Rekurs auf die „Sprichworte“ s. die Erläuterungen ebd., 11,22,2.
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23. Bei den Bienen wirst du fast immer Zeichen für vollständige Tugend
finden, und was bei anderen Tieren einzeln verbreitet zu sein scheint,
das hat Mutter Natur in diesen durch eine gnädigere Wohltat vereinigt.
[1] Durch diese wird freilich jene, wenn dies zu sagen gestattet ist,
glückliche Mutter Christi, Maria, bezeichnet, zu der der Weise wahrhaftig 5
und feinsinnig sagt: „Viele Töchter vereinigten Reichtümer, du hast sie alle
übertroffen.“ Auch du, fromme Seele, mögest dich entsprechend deiner
Fähigkeit bemühen, sie nachzuahmen. Wenn du es wahrhaft versuchst, wirst
du auf lange Sicht nicht enttäuscht werden.
[2] Wie große, wie beschaffene und welche Tugenden es gibt, wird durch 10
die gesamte Heilige Schrift bezeugt. Aber wir haben sie auch durch
verschiedene, oben erwähnte Kapitel beschrieben.1 Es sagt aber der größte
Philosoph Augustinus:2 Der Ursprung der Tugend ist ja vielmehr die
höchste Tugend, „die Tugend zu lieben.“ Und Seneca3 sagt in den
Sprichworten: „Du weißt, dass derjenige an vielen Tugenden Überfluss hat, 15
der fremde Tugenden hebt.“ „Ich verstehe diejenige als die wahre, eifrige
und vorzügliche Tugend, die anspomt, was sie bedroht.“ „Nicht die Natur
gibt die Tugend, sondern es ist eine Fertigkeit, dass Gutes geschieht.“
„Wenn die Tugend erreichen kann, dass einer nicht elend ist, wird sie es
leichter erreichen, dass er sehr glücklich ist. Es bleibt nämlich ein kleinerer 20
Abstand vom Glücklichen zum sehr Glücklichen, als vom Elenden zum
Glücklichen.“ „Seelen, die durch Ermahnung angeregt werden, bringen
nämlich die Samen aller ehrenhaften Dinge hervor, nicht anders als ein
entbrannter Funke, unterstützt durch einen leichten Hauch, sein Feuer
entfacht. Die Tugend wird nämlich aufgerichtet, wenn sie berührt und 25
angestoßen wird.“ „Die Tugend ist sowohl die Wissenschaft der anderen als
auch ihrer selbst. Über sie selbst muss etwas gelernt werden, damit sie selbst
auch gelernt wird.“ „Die Ruhe tritt nicht ein, wenn du nicht etwas
Unveränderliches und Sicheres erreichst“, und das ist Gott. „Ich folge jenem
1Vgl. Thom. Cantimpr BUA 11,12; ebd., 11,13; ebd., 11,15 sowie ebd. 11,17. S. zur
Charakterisierung des Bienenvolks auch Kapitel II.3.2. der Einleitung zur Edition. | 2Hl.
Augustinus (354-430), Kirchenlehrer, seit 396 Bischof von Hippo Regius. S. für weitere
Informationen Thom. Cantimpr. BUA 1,1,1. | 3Lucius Annaeus Seneca der Jüngere (gest. 65 n.
Chr), Politiker und Philosoph. S. für weitere Informationen Thom. Cantimpr. BUA 1,1,1. Zum
Rekurs auf die „Sprichworte“ s. die Erläuterungen ebd., 11,22,2.