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mächtige Graf von Chartres und zugleich Blois, Theobald,15 zeigte sich
seinerzeit als Freigiebigster von allen im Schenken. Mitten im Winter, der
damals rauher als üblich war, traf dieser, während er mit einer Menge Leute
auf der Straße unterwegs war, auf einen nackten Armen. Als dieser rief,
antwortete der Graf: ,Was willst du?‘ Zu ihm sprach der Arme: ,Gib mir 5
den Mantel, den du trägst/ Ohne Zögern zog der Graf den Mantel aus, gab
ihn dem Armen und sagte: ,Wenn du mehr willst, frage nur/ Und der Arme:
,Gib mir auch den Überwurf, den du hast/ Sofort als er diesen erhalten
hatte, verlangte er das Unterkleid. Als der Graf ihm dieses gegeben hatte,
blieb er in Leinen zurück. Zu ihm sagte der Arme: ,Du siehst, Graf, dass ich 10
einen geschorenen und nackten Kopf habe, gib mir also auch die Filzmütze/
Da sagte der Graf ein wenig errötend (er war nämlich glatzköpfig): ,Nun,
mein Lieber, bedrängst du mich zu sehr, weil ich die Mütze selbst nicht
entbehren kann/ Nachdem er dies gesagt hatte, verschwand der Arme,
wobei er die Kleider zurückließ. Der Graf aber stieg vom Pferd und klagte 15
traurig und kam später zu aller Zeit jedem Bittenden nach, um eine solche
Sache zu vermeiden.“
[15] Hinsichtlich des vierten Grundsatzes aber, dass man den Nächsten nicht
verachten darf, sondern ihm helfen soll, ermutigte Christus denselben
Grafen, über den wir gesprochen haben, auf folgende Weise.16 Etwa in der 20
Mitte zwischen Chartres und Blois lebte ein gewisser Lepröser, deformiert
in seinen Gliedern und sehr hässlich. Ihn schätzte Graf Theobald sehr für die
Heiligkeit seiner Lebensführung und besuchte ihn immer, wenn er über
diese Straße reiste. Es geschah aber, dass der Graf einmal für fast ein Jahr
wegblieb und der Lepröse während dieser Zeit starb. Nachdem er 25
schließlich zurückgekehrt war, kam der Graf an dem Ort vorbei und betrat,
nachdem er alle zurückgelassen hatte, allein das Haus des Leprösen und
fand den Menschen, den er durch die Lepra verwesend zurückgelassen hatte,
15 Offenbar Theobald IV. (1090/95-1152), „der Große“, Graf von Blois und Chartres seit 1125.
Zur Identifizierung s. PLATELLE, Les exemples, S. 290 sowie zum Leben und Wirken Theobalds
EVERGATES, Aristocracy, S. 42-50. | i(,Eine vergleichbare Geschichte findet sich in dem
Predigertraktat des Dominikaners Stephan von Bourbon (s. Anm. 13), s. Stephani de Borbone
Tractatus II, VII, l. 1518-1532.
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mächtige Graf von Chartres und zugleich Blois, Theobald,15 zeigte sich
seinerzeit als Freigiebigster von allen im Schenken. Mitten im Winter, der
damals rauher als üblich war, traf dieser, während er mit einer Menge Leute
auf der Straße unterwegs war, auf einen nackten Armen. Als dieser rief,
antwortete der Graf: ,Was willst du?‘ Zu ihm sprach der Arme: ,Gib mir 5
den Mantel, den du trägst/ Ohne Zögern zog der Graf den Mantel aus, gab
ihn dem Armen und sagte: ,Wenn du mehr willst, frage nur/ Und der Arme:
,Gib mir auch den Überwurf, den du hast/ Sofort als er diesen erhalten
hatte, verlangte er das Unterkleid. Als der Graf ihm dieses gegeben hatte,
blieb er in Leinen zurück. Zu ihm sagte der Arme: ,Du siehst, Graf, dass ich 10
einen geschorenen und nackten Kopf habe, gib mir also auch die Filzmütze/
Da sagte der Graf ein wenig errötend (er war nämlich glatzköpfig): ,Nun,
mein Lieber, bedrängst du mich zu sehr, weil ich die Mütze selbst nicht
entbehren kann/ Nachdem er dies gesagt hatte, verschwand der Arme,
wobei er die Kleider zurückließ. Der Graf aber stieg vom Pferd und klagte 15
traurig und kam später zu aller Zeit jedem Bittenden nach, um eine solche
Sache zu vermeiden.“
[15] Hinsichtlich des vierten Grundsatzes aber, dass man den Nächsten nicht
verachten darf, sondern ihm helfen soll, ermutigte Christus denselben
Grafen, über den wir gesprochen haben, auf folgende Weise.16 Etwa in der 20
Mitte zwischen Chartres und Blois lebte ein gewisser Lepröser, deformiert
in seinen Gliedern und sehr hässlich. Ihn schätzte Graf Theobald sehr für die
Heiligkeit seiner Lebensführung und besuchte ihn immer, wenn er über
diese Straße reiste. Es geschah aber, dass der Graf einmal für fast ein Jahr
wegblieb und der Lepröse während dieser Zeit starb. Nachdem er 25
schließlich zurückgekehrt war, kam der Graf an dem Ort vorbei und betrat,
nachdem er alle zurückgelassen hatte, allein das Haus des Leprösen und
fand den Menschen, den er durch die Lepra verwesend zurückgelassen hatte,
15 Offenbar Theobald IV. (1090/95-1152), „der Große“, Graf von Blois und Chartres seit 1125.
Zur Identifizierung s. PLATELLE, Les exemples, S. 290 sowie zum Leben und Wirken Theobalds
EVERGATES, Aristocracy, S. 42-50. | i(,Eine vergleichbare Geschichte findet sich in dem
Predigertraktat des Dominikaners Stephan von Bourbon (s. Anm. 13), s. Stephani de Borbone
Tractatus II, VII, l. 1518-1532.