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BUA 11,35
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[3] Etwas Ähnliches haben wir mit unzweifelhafter Glaubwürdigkeit auch
über einen gewissen Grafen von Hennegau vernommen, der in der Kirche
des heiligen Johannes in Valenciennes die Regularkanoniker vertreiben und
statt ihrer weltliche Kanoniker einsetzen wollte.2 Der Abt desselben Ortes
rief den höchsten Richter um Hilfe an. Als aber der Tag der Aussprache 5
nahte, begann der Abt krank zu werden und bereitete sich durch Emsigkeit
im Gebet darauf vor, vor dem höchsten Richter zu erscheinen; der Graf
seinerseits fühlte sich zur selben Zeit unwohl, und verzichtete auf den
Rechtsstreit, weil er sich vollkommen fürchtete, den Tag und das Urteil des
Gerichts zu erwarten. 10
[4] Und beachte zwei Übel bei der Umdrehung des Urteils: Das eine, das
Gott beleidigt, und das andere, das den Nächsten beleidigt. Das erste
geschieht beim Überschreiten des Befehls Gottes, das zweite, wenn man
dem Nächsten das Urteil entreißt. Also wird seine Vergeltung kommen,
damit er die Beleidigung Gottes, wenn er auch bereut, durch die Versehrung 15
des Körpers büßt, und die Beleidigung des Nächsten, welche durch ein
ungerechtes Urteil auftritt, durch Bußen zu dessen Zufriedenheit vergilt. Es
ist nämlich dasselbe, durch ein Urteil zu rauben wie mit der Hand; oder der
Verurteilte wird, wenn er ungestraft bleibt, die Strafen für beides auf ewig
leisten. Mit welchem Antlitz wird in jener fernsten Zukunft und mit 20
zitterndem Urteil derjenige den höchsten Richter selbst erwarten, der es hier
in der Welt als Richter nicht fürchtete, diesen durch ein verkehrtes und
falsches Urteil zu erzürnen?
[5] Was es aber bedeutet, Gericht zu halten, sieht man am meisten bei jenen,
die über die Abschweifungen und Werke der Untergebenen urteilen und sie 25
korrigieren müssen. Daher heißt es: Sie erkennen nämlich die
Unbelehrbaren, „züchtigen sie bald und bestrafen sie mit dem Tod.“ Ein
Vliese Episode bezieht sich auf Pläne Balduins IV. (1108-1171), Graf von Hennegau seit 1120,
zur Veränderung seiner Residenzanlage, die eine Verlegung der Augustiner-Chorherrenabtei
von Saint-Jean zur Folge gehabt hätten. Nach heftigen Protesten des Abtes von Saint-Jean
änderte Balduin IV. sein Vorhaben und entschied sich 1168 für den Bau eines neuen Schlosses
in der Stadt, das jedoch erst unter seinem Nachfolger Balduin V. (1150-1195), Graf von
Hennegau seit 1171, errichtet werden konnte. S. hierzu PLATELLE, Le developpement, bes. S. 32-
36.
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[3] Etwas Ähnliches haben wir mit unzweifelhafter Glaubwürdigkeit auch
über einen gewissen Grafen von Hennegau vernommen, der in der Kirche
des heiligen Johannes in Valenciennes die Regularkanoniker vertreiben und
statt ihrer weltliche Kanoniker einsetzen wollte.2 Der Abt desselben Ortes
rief den höchsten Richter um Hilfe an. Als aber der Tag der Aussprache 5
nahte, begann der Abt krank zu werden und bereitete sich durch Emsigkeit
im Gebet darauf vor, vor dem höchsten Richter zu erscheinen; der Graf
seinerseits fühlte sich zur selben Zeit unwohl, und verzichtete auf den
Rechtsstreit, weil er sich vollkommen fürchtete, den Tag und das Urteil des
Gerichts zu erwarten. 10
[4] Und beachte zwei Übel bei der Umdrehung des Urteils: Das eine, das
Gott beleidigt, und das andere, das den Nächsten beleidigt. Das erste
geschieht beim Überschreiten des Befehls Gottes, das zweite, wenn man
dem Nächsten das Urteil entreißt. Also wird seine Vergeltung kommen,
damit er die Beleidigung Gottes, wenn er auch bereut, durch die Versehrung 15
des Körpers büßt, und die Beleidigung des Nächsten, welche durch ein
ungerechtes Urteil auftritt, durch Bußen zu dessen Zufriedenheit vergilt. Es
ist nämlich dasselbe, durch ein Urteil zu rauben wie mit der Hand; oder der
Verurteilte wird, wenn er ungestraft bleibt, die Strafen für beides auf ewig
leisten. Mit welchem Antlitz wird in jener fernsten Zukunft und mit 20
zitterndem Urteil derjenige den höchsten Richter selbst erwarten, der es hier
in der Welt als Richter nicht fürchtete, diesen durch ein verkehrtes und
falsches Urteil zu erzürnen?
[5] Was es aber bedeutet, Gericht zu halten, sieht man am meisten bei jenen,
die über die Abschweifungen und Werke der Untergebenen urteilen und sie 25
korrigieren müssen. Daher heißt es: Sie erkennen nämlich die
Unbelehrbaren, „züchtigen sie bald und bestrafen sie mit dem Tod.“ Ein
Vliese Episode bezieht sich auf Pläne Balduins IV. (1108-1171), Graf von Hennegau seit 1120,
zur Veränderung seiner Residenzanlage, die eine Verlegung der Augustiner-Chorherrenabtei
von Saint-Jean zur Folge gehabt hätten. Nach heftigen Protesten des Abtes von Saint-Jean
änderte Balduin IV. sein Vorhaben und entschied sich 1168 für den Bau eines neuen Schlosses
in der Stadt, das jedoch erst unter seinem Nachfolger Balduin V. (1150-1195), Graf von
Hennegau seit 1171, errichtet werden konnte. S. hierzu PLATELLE, Le developpement, bes. S. 32-
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