5
10
15
20
25
BUA 11,35
721
Beispiel für diese Sache findest du im ersten Buch der Könige, wo der
Priester Eli seine sich gegen das Gesetz erhebenden Söhne nicht berichtigt
hat und eines Tages mit diesen gemeinsam die Rache in Form einer höchst
grausamen, aber sehr gerechten Strafe empfängt.
[6] Weil er nach beiden Seiten hin fürchtete, was über die ungerechten 5
Richter gesagt wurde und über diejenigen, die die Zurechtweisung der
unbelehrbaren Untergebenen vernachlässigen, fällte ein gewisser Graf als
sehr gerechter Richter, wie wir aus einer höchst glaubwürdigen Quelle
erfahren haben, gegen den eigenen Sohn folgendes einzigartiges Urteil.3 Der
Graf selbst hatte zwei oder drei Jahre lang kraftlos und krank danieder 10
gelegen. Eines Tages wurde in der ganzen Stadt das heftige Geschrei des
Volkes erregt, weil sein Sohn eine Jungfrau vergewaltigt hatte. Bestürzt
über das Geschrei erkundigte sich der Vater, was die Ursache sei. Anfangs
versagten diejenigen, die bei ihm standen, ihm seine Bitte, aber schließlich
berichteten sie, weil sie zu erschreckt waren, die Wahrheit. Als diese 15
enthüllt war, verlangte der Vater mit von Tränen bedecktem Gesicht von
einem nahestehenden Diener ein geschärftes langes Messer, als wolle er sich
die Nägel schneiden. Er hielt sich dabei jedoch nicht lange auf und befahl,
als kaum sechs Stunden vergangen waren, den Sohn herbeizurufen. Als
dieser kam und näher trat, sagte der Vater: „Du wusstest doch wohl, dass ich 20
der Herr dieses Landes bin und wolltest, während ich noch am Leben war,
zu meiner und deiner Beschämung eine Jungfrau vergewaltigen? Das sei mir
fern, dass ich so einen Erben wie dich habe und dir als so einem Herrn nach
meinem Tode das Land überlasse.“ Während er dies noch sagte, stieß er ihm
plötzlich mit dem Messer ins Herz. 25
Und es waren keine vier Tage danach vergangen, da bestellte er, weil er
seinen eigenen Tod bevorstehen sah, einen gewissen Abt zum Mitwisser
seines Geheimnisses. Nachdem er sich ihm anvertraut hatte, den Leib
3 Eine vergleichbare Episode findet sich in dem zwischen 1214 19 und 1223 entstandenen
Dialogus miraculorum des Zisterziensers Caesarius von Heisterbach (um 1180-ca. 1240); der
Protagonist in seiner Darstellung ist Erkenbald von Bourbon. S. Caes. Dial. mirac. 9,38 sowie
zur Rezeption dieser Episode HlBBARD, Erkenbald the Belgian.
10
15
20
25
BUA 11,35
721
Beispiel für diese Sache findest du im ersten Buch der Könige, wo der
Priester Eli seine sich gegen das Gesetz erhebenden Söhne nicht berichtigt
hat und eines Tages mit diesen gemeinsam die Rache in Form einer höchst
grausamen, aber sehr gerechten Strafe empfängt.
[6] Weil er nach beiden Seiten hin fürchtete, was über die ungerechten 5
Richter gesagt wurde und über diejenigen, die die Zurechtweisung der
unbelehrbaren Untergebenen vernachlässigen, fällte ein gewisser Graf als
sehr gerechter Richter, wie wir aus einer höchst glaubwürdigen Quelle
erfahren haben, gegen den eigenen Sohn folgendes einzigartiges Urteil.3 Der
Graf selbst hatte zwei oder drei Jahre lang kraftlos und krank danieder 10
gelegen. Eines Tages wurde in der ganzen Stadt das heftige Geschrei des
Volkes erregt, weil sein Sohn eine Jungfrau vergewaltigt hatte. Bestürzt
über das Geschrei erkundigte sich der Vater, was die Ursache sei. Anfangs
versagten diejenigen, die bei ihm standen, ihm seine Bitte, aber schließlich
berichteten sie, weil sie zu erschreckt waren, die Wahrheit. Als diese 15
enthüllt war, verlangte der Vater mit von Tränen bedecktem Gesicht von
einem nahestehenden Diener ein geschärftes langes Messer, als wolle er sich
die Nägel schneiden. Er hielt sich dabei jedoch nicht lange auf und befahl,
als kaum sechs Stunden vergangen waren, den Sohn herbeizurufen. Als
dieser kam und näher trat, sagte der Vater: „Du wusstest doch wohl, dass ich 20
der Herr dieses Landes bin und wolltest, während ich noch am Leben war,
zu meiner und deiner Beschämung eine Jungfrau vergewaltigen? Das sei mir
fern, dass ich so einen Erben wie dich habe und dir als so einem Herrn nach
meinem Tode das Land überlasse.“ Während er dies noch sagte, stieß er ihm
plötzlich mit dem Messer ins Herz. 25
Und es waren keine vier Tage danach vergangen, da bestellte er, weil er
seinen eigenen Tod bevorstehen sah, einen gewissen Abt zum Mitwisser
seines Geheimnisses. Nachdem er sich ihm anvertraut hatte, den Leib
3 Eine vergleichbare Episode findet sich in dem zwischen 1214 19 und 1223 entstandenen
Dialogus miraculorum des Zisterziensers Caesarius von Heisterbach (um 1180-ca. 1240); der
Protagonist in seiner Darstellung ist Erkenbald von Bourbon. S. Caes. Dial. mirac. 9,38 sowie
zur Rezeption dieser Episode HlBBARD, Erkenbald the Belgian.