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Thomas; Burkhardt, Julia [Hrsg.]
Von Bienen lernen: das "Bonum universale de apibus" des Thomas von Cantimpré als Gemeinschaftsentwurf : Analyse, Edition, Übersetzung, Kommentar (Teilband 2): Analyse, Edition, Übersetzung und Kommentar — Regensburg: Schnell + Steiner, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.53742#1016
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BUA 11,57

1011

[7] Aber auch in der Nacht haben gewisse Dämonen das Vermögen, zu
schaden und zu erscheinen, welches sie am helllichten Tag nicht haben
können, und dies geschieht nämlich zur Stärkung des Glaubens der
Gläubigen. Der Mensch erschreckt sich nämlich in der Nacht leichter als am
Tag. Dennoch vermag der Teufel, wie der hochheilige Augustinus8 sagt, 5
weder in der Nacht noch am Tag etwas; „es sei denn, er hat die Erlaubnis“.
Und erkenne das in folgendem schönen und einsichtigen Beispiel.
[8] Wir haben in der Stadt Nivelles eine gottesfürchtige Jungfrau gesehen,
über die höchst wahrhaft erzählt wurde, dass sie nach dem Tod ihrer Eltern
im Haus ihres Bruders, eines Ritters, zurückgelassen wurde. Sie bemühte 10
sich aber schon lange um den Zisterzienserorden und konnte doch keinen
Erfolg erzielen; sie glaubte tapfer im Herzen, dass sie, sofern sie es
vermochte, ein regelgemäßes Leben auch in der Welt einhalten könnte. Sie
ging also in leinemen Chorhemden einher, befolgte die Fastentage, hielt
Ruhe, verzichtete auf Fleisch, stand zur Stunde der Matutin auf, ging in die 15
Kirche und erfüllte die regulären Stundengebete.9 Es ereignete sich jedoch,
dass - ohne ihr Wissen - der tote Körper eines gewissen Verstorbenen am
Abend zur Kirche gebracht und allein auf einer Bahre zurückgelassen
wurde. Mitten in der Nacht aber stand die Jungfrau, von der wir bereits
gesprochen haben, auf und betrat die Kirche; sie fand dort zwar den Toten, 20
fürchtete sich aber wenig oder gar nicht, setzte sich hin und begann die
Stundengebete. Als dies der Teufel sah, wurde er neidisch, und indem er in
den toten Körper eintrat, erschütterte er zunächst die Bahre. Die Jungfrau
bekreuzigte sich also, sprach standhaft und rief den Teufel an: „Schweig, du
Elendester, schweig, weil du nichts gegen mich zu tun vermagst.“ Und bald 25
erhob sich der Teufel mit dem Körper des Toten und sagte: „Tatsächlich
vermag ich nun etwas gegen dich zu tun und ich werde mein Unrecht, das
von Dir zugefügt wurde, wiederholt rächen.“ Als jene dies sah, riss sie mit
unerschrockenem Herzen einen Stab mit einem daran befestigten Kreuz mit
beiden Händen an sich, warf - während sie auf den Kopf des Leichnams 30
schlug - den Toten auf den Boden und entfloh so mit aufrichtigem Mut dem
Dämon. Lange Zeit versuchte die Jungfrau Christi überdies mit größter
Angst, den zu Boden geworfenen Leichnam auf die Bahre zurück zu

8///. Augustinus (354-430), Kirchenlehrer, seit 396 Bischof von Hippo Regius. S. für weitere
Informationen Thom. Cantimpr. BUA 1,1,1. | 9Unter dem Stundengebet versteht man
gemeinsame Gebetszeiten in Klöstern und Stiften, die auf die Tageszeit abgestimmt waren
(Matutin, hora prima, hora tertia, hora sexta, hora nona, Vesper, Komplet). S. für weitere
Informationen Thom. Cantimpr. BUA 11,8,1.
 
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