Evangelische Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts

Straßburg

50. Große Zuchtordnunga
11. November 1573

|A 2r| Wir, Wolff Sigmund Wurmser, der Meister1,
und der Rhat zu Straßburg, Thun kundt: Dem-
nach2 der Allmechtig, güttig Gott, unser Himmli-
scher Vatter, sonder allen Zweiffel umb unserer
grossen Sünd unnd Missethat willen, die wir täg-
lichs ohne Underlaß begehn, unns nuhn ettliche Jar
einher mit allerley Straff, fürnemblich der beharrli-
chen unnd langwürigen schweren Frucht thewrung
unnd Hungersnoht, So dann mit ungewohnlichem
Gewitter und darauß erfolgtem Mißgewächs des
Weins, Dergleichen mit gantz beschwerlichen, sorg-
lichen3 unnd hochschädlichen Kriegen, darmit un-
sere genachbarten noch beladen4, unnd niemandts
wissen mag, wann die unns auch berüren unnd tref-
fen möchten, gnädig unnd vätterlich heimgesucht,
Dabeneben5 auch die Zeit unnd Leüff sich allent-
halben gantz geschwind6, sorgklich und gefährlich
erzeigen, auß welchem allem anders nichts dann der
Göttlichen Maiestat durch unns wolverdiente, er-
schrockenliche unnd schwere Zorn unnd Straff ei-
gentlich zuvermercken, zuspüren unnd abzunemen,
Unnd aber solchem durch kein ander Mittel dann
ablegung unsers Sündtlichen Lebens, Wandels unnd
Wesens, Andrettung7 wahrer, rechtschaffener Buß
unnd eines Christlichen, Frommen, Gottseligen, Er-
baren unnd züchtigen Lebens, auch das täglich emb-
sig, ernstlich, fleissig unnd andächtig Gebett zu
Gott, dem Allmechtigen, abgewendt, seiner Göttli-
chen Maiestat inn ihre uber unns hochverursachter
weiß zur Straff außgestreckte Arm unnd Rut gefal-

a Textvorlage (Druck): AMS Straßburg 1 AST 84, Nr. 89
(Bl. 576r-582v). Es fehlt das erste Blatt mit dem Titel
der Ordnung.

1 Zum Stettmeister Wolf Sigmund Wurmser s. das Bio-
gramm in Nr. 42, Anm. 3.
2 Weil, s. Grimm, DWb 2, Sp. 919.
3 Gefährlichen.
4 Die Zuchtordnung bezieht sich hier wohl auf die kriege-
rischen Auseinandersetzungen in Frankreich (vierter

len8, zu Gnade wider bewegt unnd fernere noch
ernstlichere, unnachlässige Straff verhüttet unnd
fürkommen werden mag, So hetten wir unns zu un-
sern Burgern, Innwohnern, Underthanen, angehö-
rigen, zugethanen unnd Verwandten inn Statt unnd
Land gäntzlich getröstet unnd versehen, es würde
ein jeder bey unnd für sich selbsten sollichs alles zu
hertz unnd gemüt gefürt, erwogen unnd betrachtet,
alles das jhenig, damit der Allmechtig belaidigt, zu
Zorn bewegt unnd der nächst geergert würde, abge-
stellt, sich zu wahrer Buß unnd Besserung geschickt
unnd sich also erzeigt unnd bewisen haben, das nit
noth gewesen were, ferner gepürlichs insehens9 vor-
|A 2v| zunemmen. Wann wir aber leyder biß daher,
wie noch im Werck gespürt unnd befunden, das bey
vilen, alt unnd jungen, Mans unnd Weibs personen,
vast durchauß die bißher gewerte, unerhörte Thew-
rungen, das erschrockenliche, ungewohnliche Ge-
witter unnd darauß eraigende10 schwere unnd
erschrockliche gerechte Zorn unnd Straff Gottes we-
nig bedacht oder angesehen, sonder desto weniger
nit mit allerhandt Laster, Uppigkeit, Mutwill, uber-
flüssigem Essen, Trincken unnd anderm, dardurch
der Allmechtig zu noch mehrerm und grösserm Zorn
verursacht, der Nächst zum höchsten geergert unnd
eins jeden ewiger unnd zeitlicher Schaden unnd
endtlich verderben befürdert, beharrlich unnd un-
nachlässig fürgeschritten würdt, Und dann wir uns
von unsers tragenden Ampts wegen schuldig wissen
unnd erkennen, ein solches, sovil immer menschlich

Hugenottenkrieg mit der Belagerung von La Rochelle)
und in den Niederlanden (Kampf gegen die Spanier). Zu
genachbart = benachbart, s. Grimm, DWb 5, Sp. 3344.
5 Zur Form da[r]beneben für daneben vgl. FWb 5, Sp. 186
und Grimm, DWb 2, Sp. 660.
6 Unruhig, stürmisch, s. Grimm, DWb 5, Sp. 3995.
7 Beginn, s. FWb 1, Sp. 1546.
8 Vgl. Ps 89,33.
9 Angemessene Strafen, s. Grimm, DWb 3, Sp. 290f.
10 Sich erweisende, s. Grimm, DWb 3, Sp. 784.

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