Evangelische Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts

61. Kirchenordnung

keinen ungedultigen Widerwillen wider die Oberkeit
oder derselbigen Diener von wegen der Straff fassen,
haben oder behalten mögen.
ξWann denn nun der arme Sünder an dem Freitag
auß dem Thurn für die Pfaltz geführet wirdt, da-
selbsten seine Vergicht606 und Urtheil offentlich an-
zuhören, Begleiten ihne die beide Kirchendiener und
sprechen ihm zu, einer umb den andern, Erinnern
ihn seines Christlichen Glaubens, den er im Gefäng-
nuß gelernet hat, Trösten ihn mit schönen Sprüchen
auß Gottes heiligem Wort, Sonderlich aber mit de-
nen, so ihme am besten bekannt und anmütig607
werden. Insonderheit aber ist sehr dienstlich die
Passion Christi, Welcher unschuldiger weise hat
müßen für der Welt zu spott und zu schanden wer-

den, mit Gallen und Essig gelabet, Darumb er sich
solcher Außführung608 auch nicht zu beschwaren ha-
be, Als der es mit seiner Mißhandlung wol ver-
schuldet, Und dannoch ime mit dem Truncke und
auch andern Stucken mehr Barmhertzigkeit wider-
fahre dann Christo, seinem Heilandt, widerfahren.
Wie er dann auch ab der grossen Menge volcks, so
bei dem Hochgericht609 zugegen, nit soll erschre-
cken, Sondern sich des trösten, das viel da sind, die
ein hertzlich Mitleiden mit im haben, auch für in
bitten, Ja, das ein grössere Anzal heiliger Engel
ihme auff die Seele warten.
Ende des andern Theils. |281|

Das dritte Theil der Kirchenordnung.
Von der ubrigen Haußhaltung in der Kirchen Gottes, welche zu Erhaltung der reinen Lehre und
nutzlicher Ceremonien von nöthen ist

Biß hieher haben wir nicht allein den Grund reiner,
Gesunder Lehre gelegt, Sondern auch angezeigt, Wie
auf demselben alle gemeine und besondere Handlun-
gen in der Kirchen Gottes gebawet und auffgeführet
werden sollen. Es will aber noch weiter zu handlen
sein von nothwendiger Fürsorg und gleichsam dem
Tach, damit solcher Baw für Regen und allerhand
Ungewitter solle bewahret werden.
oHie zu nun gehören nachfolgende nöthige Stü-
cke, Als zum 1. Ordenlicher Beruf der Kirchendiener
und Bestellung der nothwendigen Kirchendienste
sampt Beschreibung ihres Ampts, das ihro jeder in
der Gemeine Christi zu verrichten hat, 2. Ordnung
des Kirchen Convents, wie derselbig gehalten und
von was Sachen darinnen soll gehandlet werden,
3. Von den Kirchenpflägern und der gemeinen Buß-
zucht oder Disciplina der Kirchen, 4. Die Censura

der Kirchendiener untereinandern selbst, 5. Die Ehe
Ordnung, in welchem Gradu die Ehe der Blut-
freundschaft oder Schwagerschaft halben zugelaßen
oder verbotten sein solle, 6. Die Pfarrschulen, wel-
che neben anderem mehren Nutz |282| auch dienen
zu erhaltung des Kirchengesangs und des Catechis-
mi, 7. Kirchen Visitation auf dem Lande, 8. All-
mosen und Spital, 9. Das Seminarium Ecclesiae, das
ist, Welcher maßen bei der Kirchen und Schule sol-
che Personen mögen auferzogen werden, die man
künftig zu Kirchen- und Schuldiensten nützlich
möge gebrauchen.
Wann nun solche Stucke recht angerichtet und
fleißig folgenden Ordnungen gemäß erhalten wer-
den, So wirdt es auch kein noth haben weder mit der
Lehre noch den Ceremonien, im ersten und anderen
Theil begriffen.

ξ Außführung der Ubelthäter und Trost wider die Welt-
liche Schande.
o Inhalt des dritten Theils der Kirchen Ordnung.

606 Aussage, Geständnis, s. Grimm, DWb 25, Sp. 432.

607 Gefällig, angenehm, s. FWb 1, Sp. 1334.
608 Hinrichtung (zu ausführen im Sinne von „zur Hinrich-
tung hinausführen“ s. Anm. 203).
609 An der Richtstätte, s. DRW 5, Sp. 1115f.

659