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wandten sich an den Erzbischof,8 welcher der höchste Berater des Königs
war, und boten ihm unzähliges Geld für die Bewahrung ihrer Bücher. Davon
verleitet, ging er zum König und kehrte dessen jugendliche Seele bald zu
seinem Willen um. Als ihnen die Bücher zurückgegeben waren, beschlossen
die Juden jedes Jahr einen Festtag zu machen. Aber vergebens, denn der 5
Geist Gottes befahl etwas anderes. Nach Ablauf eines Jahres nämlich, an
eben jenem Tag und demselben Ort, an dem die verfluchten Bücher den
Juden zurückgegeben worden waren (das ist in Vincennes bei Paris), kam
besagter Erzbischof zur Beratung des Königs und wurde von einem
unheilvollen Schmerz seiner Eingeweide ergriffen; und an jenem Tag 10
beendete er unter großem Wehklagen sein Leben. Der König aber
verschwand mit seiner gesamten Familie von diesem Ort und war allzu
besorgt, dass er durch göttliche Fügung mit dem Erzbischof getötet werden
könnte. Kurz danach wurden - wie zuvor auf Veranlassung des genannten
Bruders Heinrich, die Bücher der Juden unter Todesstrafe gesammelt und in 15
großer Menge verbrannt.9 Wisse aber, Leser, dass alle östlichen Juden
diejenigen Juden für Häretiker und Exkommunizierte halten, die gegen das
Gesetz Moses‘ und gegen die Propheten dieses Buch, welches Talmud
genannt wird, annehmen und vervielfältigen.10 Und dennoch hat der
Erzbischof von Christi Gesetz dieses verteidigt.11 20
^Offenbar Walter Cornut (gest. 1241), Erzbischof von Sens. S. PLATELLE, Introduction, S. 45.
^Pariser Talmud-Verbrennung von 1242. S. hierzu Le GOFF, Ludwig der Heilige, S. 709-710
sowie mit einer Diskussion der Datierung ROSE, When was the Talmud burnt. | ^Dieser
Hinweis auf kritische Bewertungen des Talmuds klingt zunächst wie eine Anspielung auf die
jüdischen Karaiten/Karäer, die allein die Bibel als Gesetzesautorität anerkannten und somit
gegen die im Talmud festgehaltenen Traditionsgesetze votierten. Dass Byzanz ein bedeutender
Wirkungsort der Karaiten war, würde mit der Bezeichnung„ östliche Juden ” korrespondieren, s.
für einen Überblick ÄNKORI, Karaites. Inwiefern die karaitische Talmud-Kritik jedoch im
Frankreich des 13. Jahrhundert überhaupt verbreitet war, diskutierte zuletzt kritisch CAPELLI,
Nicolas Donin, S. 171-174, mit Blick auf die Person des jüdischen Konvertiten Nikolas Donin.
Donin, der als Kläger gegen den Talmud eine prominente Rolle im „ Talmud-Prozess ” einnahm,
scheint vielmehr ein Vertreter der zeitgenössischen Kritik an der Führungsrolle der Rabbiner
und zudem von parallelen christlichen Debatten (Kritik an patristischer Tradition) geprägt
gewesen zu sein; es ist denkbar, dass Thomas von Cantimpre über das intellektuelle Pariser
Milieu mit entsprechenden talmudskeptischen Thesen in Berührung kam. | 11 Diese
Schlussfolgerung verdeutlicht, worum es in dieser Geschichte eigentlich geht: Im Mittelpunkt
stehen nämlich weder der genaue Ablauf des „Talmud-Prozesses” noch die Rolle des
französischen Königs bzw. der französischen Geistlichen darin (gleichwohl wird diese Episode
in Arbeiten zum „Talmud-Prozess” zumeist als christlicher Beleg für die Chronologie des
Pariser Geschehens bewertet, s. dazu ROSE, When was the Talmud burnt, S. 329-330).
Stattdessen geht es um die allegorische Ausdeutung der tugendhaften Amtsführung eines
Kirchenvorstehers und deren sündhaften Gegenbildern - eine Lesart, die durch das
anschließende Unterkapitel 7 abgerundet wird. S. dazu auch SCHWARTZ, Authority.
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wandten sich an den Erzbischof,8 welcher der höchste Berater des Königs
war, und boten ihm unzähliges Geld für die Bewahrung ihrer Bücher. Davon
verleitet, ging er zum König und kehrte dessen jugendliche Seele bald zu
seinem Willen um. Als ihnen die Bücher zurückgegeben waren, beschlossen
die Juden jedes Jahr einen Festtag zu machen. Aber vergebens, denn der 5
Geist Gottes befahl etwas anderes. Nach Ablauf eines Jahres nämlich, an
eben jenem Tag und demselben Ort, an dem die verfluchten Bücher den
Juden zurückgegeben worden waren (das ist in Vincennes bei Paris), kam
besagter Erzbischof zur Beratung des Königs und wurde von einem
unheilvollen Schmerz seiner Eingeweide ergriffen; und an jenem Tag 10
beendete er unter großem Wehklagen sein Leben. Der König aber
verschwand mit seiner gesamten Familie von diesem Ort und war allzu
besorgt, dass er durch göttliche Fügung mit dem Erzbischof getötet werden
könnte. Kurz danach wurden - wie zuvor auf Veranlassung des genannten
Bruders Heinrich, die Bücher der Juden unter Todesstrafe gesammelt und in 15
großer Menge verbrannt.9 Wisse aber, Leser, dass alle östlichen Juden
diejenigen Juden für Häretiker und Exkommunizierte halten, die gegen das
Gesetz Moses‘ und gegen die Propheten dieses Buch, welches Talmud
genannt wird, annehmen und vervielfältigen.10 Und dennoch hat der
Erzbischof von Christi Gesetz dieses verteidigt.11 20
^Offenbar Walter Cornut (gest. 1241), Erzbischof von Sens. S. PLATELLE, Introduction, S. 45.
^Pariser Talmud-Verbrennung von 1242. S. hierzu Le GOFF, Ludwig der Heilige, S. 709-710
sowie mit einer Diskussion der Datierung ROSE, When was the Talmud burnt. | ^Dieser
Hinweis auf kritische Bewertungen des Talmuds klingt zunächst wie eine Anspielung auf die
jüdischen Karaiten/Karäer, die allein die Bibel als Gesetzesautorität anerkannten und somit
gegen die im Talmud festgehaltenen Traditionsgesetze votierten. Dass Byzanz ein bedeutender
Wirkungsort der Karaiten war, würde mit der Bezeichnung„ östliche Juden ” korrespondieren, s.
für einen Überblick ÄNKORI, Karaites. Inwiefern die karaitische Talmud-Kritik jedoch im
Frankreich des 13. Jahrhundert überhaupt verbreitet war, diskutierte zuletzt kritisch CAPELLI,
Nicolas Donin, S. 171-174, mit Blick auf die Person des jüdischen Konvertiten Nikolas Donin.
Donin, der als Kläger gegen den Talmud eine prominente Rolle im „ Talmud-Prozess ” einnahm,
scheint vielmehr ein Vertreter der zeitgenössischen Kritik an der Führungsrolle der Rabbiner
und zudem von parallelen christlichen Debatten (Kritik an patristischer Tradition) geprägt
gewesen zu sein; es ist denkbar, dass Thomas von Cantimpre über das intellektuelle Pariser
Milieu mit entsprechenden talmudskeptischen Thesen in Berührung kam. | 11 Diese
Schlussfolgerung verdeutlicht, worum es in dieser Geschichte eigentlich geht: Im Mittelpunkt
stehen nämlich weder der genaue Ablauf des „Talmud-Prozesses” noch die Rolle des
französischen Königs bzw. der französischen Geistlichen darin (gleichwohl wird diese Episode
in Arbeiten zum „Talmud-Prozess” zumeist als christlicher Beleg für die Chronologie des
Pariser Geschehens bewertet, s. dazu ROSE, When was the Talmud burnt, S. 329-330).
Stattdessen geht es um die allegorische Ausdeutung der tugendhaften Amtsführung eines
Kirchenvorstehers und deren sündhaften Gegenbildern - eine Lesart, die durch das
anschließende Unterkapitel 7 abgerundet wird. S. dazu auch SCHWARTZ, Authority.