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BUA 1,24
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24. „Den ermüdeten“ König „tragen die Stärkeren auf ihren
Schultern“, und „sie tragen ihn ganz und gar“.
[1] Es ist unmöglich, dass irgendein äußerst Starker bei großer und
beständiger Anstrengung gar nicht ermüdet. Christus, der Herr aller und
Gigant der doppelten Natur, nimmt die Gestalt aller Ermüdeten in sich auf 5
und sagt: „O du ungläubiges und verkehrtes Geschlecht“, wie lange werde
ich bei euch sein? Wie lange soll ich euch erdulden? Und woher, o
frommster und gütigster Jesus, der du am geduldigsten zu warten bereit bist,
kommt diese Äußerung eines so ungewöhnlichen, so bitteren Ausrufs bei
der Ermüdung? Weil du nämlich von dem verdorbenen Geschlecht durch 10
seine Unverbesserlichkeit und seinen verkehrten Unglauben zu einem
solchen Zeitpunkt abgehalten wirst. Du, der du selbst ein Untergebener bist,
sollst die Art verbessern, in gnadenreichen Disziplinen auszubilden. Und so
wie „ein starker Esel“ setzt du auf Befehl Gottes deine Schultern „an das,
was getragen werden muss“ und wirst den vor Anstrengungen ermüdeten 15
Vorsteher auf den Schultern emporheben. Stärkere aber werden die genannt,
die, weil sie den besseren Gnadengeschenken folgen, nicht nur untergeben
sein, sondern auch vorstehen können. Und das sind die Amtsträger, die die
Stellvertretung für die Vorsteher übernehmen und sie darin ganz und gar
tragen. „Die in Nächstenliebe Unterstützenden“, sagt der Apostel. 20
[2] Aus einer Erzählung haben wir erfahren, dass es vor kurzem in der
Provinz Schwaben1 eine Priorin des Predigerordens gegeben hat, die bei der
heiligen und vollkommenen Lenkung ihrer Untergebenen an allen Gliedern
ermüdet war und gelähmt daniederlag. Heimlich schickte sie nach dem Prior
der Zürcher Dominikaner,2 der den Schwestern vorstand, und bat ihn unter 25
Tränen, dass er sie von ihrem Amt entbinde, zumal sie ihn darum schon vor
1 Institutionell wurde Schwaben fSueviaJ erst zu Beginn des 14. Jahrhunderts als Nation des
Dominikanerordens definiert: 1301-1303 legten Beschlüsse des dominikanischen
Generalkapitels fest, die bisherige Provinz Teutonia in vier Bestandteile fnationesj aufzuteilen:
Alsatia, Suevia, Bavaria sowie Franconia Renus / Brabantia S. dazu Heimann, Umfang.
^Aufgrund der spärlichen Kontextinformationen ist dieser Protagonist nicht näher zu
identifizieren. Das bei WEHRLI-JOHNS, Geschichte, S. 231-237, zusammengestellte Verzeichnis
umfasst zwar die Zürcher Prioren zwischen 1232 und 1524. Allein für die Lebenszeit des
Thomas von Cantimpre bis 1270 sind jedoch 19 Personen genannt, und selbst wenn man die
Abfassung des „Bienenbuchs" um 1250 ansetzt, lässt sich keine genauere Zuordnung
vornehmen.
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24. „Den ermüdeten“ König „tragen die Stärkeren auf ihren
Schultern“, und „sie tragen ihn ganz und gar“.
[1] Es ist unmöglich, dass irgendein äußerst Starker bei großer und
beständiger Anstrengung gar nicht ermüdet. Christus, der Herr aller und
Gigant der doppelten Natur, nimmt die Gestalt aller Ermüdeten in sich auf 5
und sagt: „O du ungläubiges und verkehrtes Geschlecht“, wie lange werde
ich bei euch sein? Wie lange soll ich euch erdulden? Und woher, o
frommster und gütigster Jesus, der du am geduldigsten zu warten bereit bist,
kommt diese Äußerung eines so ungewöhnlichen, so bitteren Ausrufs bei
der Ermüdung? Weil du nämlich von dem verdorbenen Geschlecht durch 10
seine Unverbesserlichkeit und seinen verkehrten Unglauben zu einem
solchen Zeitpunkt abgehalten wirst. Du, der du selbst ein Untergebener bist,
sollst die Art verbessern, in gnadenreichen Disziplinen auszubilden. Und so
wie „ein starker Esel“ setzt du auf Befehl Gottes deine Schultern „an das,
was getragen werden muss“ und wirst den vor Anstrengungen ermüdeten 15
Vorsteher auf den Schultern emporheben. Stärkere aber werden die genannt,
die, weil sie den besseren Gnadengeschenken folgen, nicht nur untergeben
sein, sondern auch vorstehen können. Und das sind die Amtsträger, die die
Stellvertretung für die Vorsteher übernehmen und sie darin ganz und gar
tragen. „Die in Nächstenliebe Unterstützenden“, sagt der Apostel. 20
[2] Aus einer Erzählung haben wir erfahren, dass es vor kurzem in der
Provinz Schwaben1 eine Priorin des Predigerordens gegeben hat, die bei der
heiligen und vollkommenen Lenkung ihrer Untergebenen an allen Gliedern
ermüdet war und gelähmt daniederlag. Heimlich schickte sie nach dem Prior
der Zürcher Dominikaner,2 der den Schwestern vorstand, und bat ihn unter 25
Tränen, dass er sie von ihrem Amt entbinde, zumal sie ihn darum schon vor
1 Institutionell wurde Schwaben fSueviaJ erst zu Beginn des 14. Jahrhunderts als Nation des
Dominikanerordens definiert: 1301-1303 legten Beschlüsse des dominikanischen
Generalkapitels fest, die bisherige Provinz Teutonia in vier Bestandteile fnationesj aufzuteilen:
Alsatia, Suevia, Bavaria sowie Franconia Renus / Brabantia S. dazu Heimann, Umfang.
^Aufgrund der spärlichen Kontextinformationen ist dieser Protagonist nicht näher zu
identifizieren. Das bei WEHRLI-JOHNS, Geschichte, S. 231-237, zusammengestellte Verzeichnis
umfasst zwar die Zürcher Prioren zwischen 1232 und 1524. Allein für die Lebenszeit des
Thomas von Cantimpre bis 1270 sind jedoch 19 Personen genannt, und selbst wenn man die
Abfassung des „Bienenbuchs" um 1250 ansetzt, lässt sich keine genauere Zuordnung
vornehmen.