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BUA 11,50
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Gesicht zum Erstaunen des Volkes, im Zustand des Lachens und voll von
Heiterkeit. Es gibt überhaupt keinen Zweifel, dass jene beim Anblick der
Engel, die ihr zur Seite standen, jubelte.6 Dennoch mögen sich die Frommen
und Gläubigen - wie sehr auch immer - hüten, sich scheinbar an der
eigenen Erregung im Tod zu freuen, sondern sie sollen mit Furcht und 5
Achtung den letzten Tag erwarten. Dazu werde ich auch ein erwiesenes
Beispiel erzählen.
[9] Gamerus, ein gewisser Regularkanoniker im Kloster St. Johannes in den
Weinbergen bei Soissons in Frankreich,7 ein Mann von wunderbarer
Heiligkeit, wie wir gesehen haben, und von Unschuld, litt vor seinem Tod 10
an einer sehr schweren Krankheit. Und siehe! Der Teufel, der immer wieder
unsere „Ferse“ trifft, stiftete dessen Geist zur Fröhlichkeit frecher
Ausgelassenheit an, so dass seine Sprache und sein Gesicht solch großen
Jubel widerspiegelten, dass alle, die dabeistanden, glaubten, er schaue
bereits den himmlischen Ruhm; und daher erwarteten alle in großer 15
Begeisterung von Verehrung und Jubel seinen Tod. Allein ein gewisser
Walter jedoch, mit dem Beinamen „der Kleine“, der aber hinsichtlich seines
Verdienstes an Heiligkeit ein Großer war, war über den Jubel des auf diese
Weise Sterbenden still und betrübt. Als der bereits Sterbende begann, in den
letzten Zügen zu liegen und für einen Zeitraum von jener Ausgelassenheit 20
abgehalten wurde, begann er reichlich zu weinen. Zu ihm kam also ein
gewisser Bruder, der ihm zugetan war, und erfragte den Grund für die
Traurigkeit nach einer solch großen Ausgelassenheit. Und jener sagte:
„Lasse für mich den Konvent der Brüder vollständig zusammenkommen.“
Wenig später wurde getan, was er erbeten hatte, und bald sagte er allen: 25
„Ach, ihr Liebsten, ihr habt an mir - auf eine Eingebung des Teufels hin -
die Kühnheit einer eitlen und frechen Ausgelassenheit gesehen; aber die
Mutter und Herrin der Barmherzigkeit hat nicht erlaubt, dass ich in Gefahr
gerate; sie hat mich für die Fröhlichkeit einer unpassenden Eitelkeit getadelt
und eher dazu gemahnt, mit einer Mäßigung der Hoffnung und in Furcht vor 30
Gott den letzten Tag zu erwarten. Ihr aber, liebste Brüder, bittet Gott, dass
6Vgl. zu der hier sowie in den folgenden beiden Unterkapiteln beschriebenen „heiligen
Heiterkeit" auch die ähnliche Episode im Predigertraktat des Dominikaners Stephan von
Bourbon (um 1180 oder 1190 95-1261): Stephani de Borbone Tractatus II,III, l. 25-30. Zu
Stephans, außerdem Kapitel II. 1. der Einleitung zur Edition. | ^Augustiner-Chorherrenabtei
Saint-Jean-des-Vignes in Soissons. S. für weitere Informationen Thom. Cantimpr. BUA II, 12,7.
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Gesicht zum Erstaunen des Volkes, im Zustand des Lachens und voll von
Heiterkeit. Es gibt überhaupt keinen Zweifel, dass jene beim Anblick der
Engel, die ihr zur Seite standen, jubelte.6 Dennoch mögen sich die Frommen
und Gläubigen - wie sehr auch immer - hüten, sich scheinbar an der
eigenen Erregung im Tod zu freuen, sondern sie sollen mit Furcht und 5
Achtung den letzten Tag erwarten. Dazu werde ich auch ein erwiesenes
Beispiel erzählen.
[9] Gamerus, ein gewisser Regularkanoniker im Kloster St. Johannes in den
Weinbergen bei Soissons in Frankreich,7 ein Mann von wunderbarer
Heiligkeit, wie wir gesehen haben, und von Unschuld, litt vor seinem Tod 10
an einer sehr schweren Krankheit. Und siehe! Der Teufel, der immer wieder
unsere „Ferse“ trifft, stiftete dessen Geist zur Fröhlichkeit frecher
Ausgelassenheit an, so dass seine Sprache und sein Gesicht solch großen
Jubel widerspiegelten, dass alle, die dabeistanden, glaubten, er schaue
bereits den himmlischen Ruhm; und daher erwarteten alle in großer 15
Begeisterung von Verehrung und Jubel seinen Tod. Allein ein gewisser
Walter jedoch, mit dem Beinamen „der Kleine“, der aber hinsichtlich seines
Verdienstes an Heiligkeit ein Großer war, war über den Jubel des auf diese
Weise Sterbenden still und betrübt. Als der bereits Sterbende begann, in den
letzten Zügen zu liegen und für einen Zeitraum von jener Ausgelassenheit 20
abgehalten wurde, begann er reichlich zu weinen. Zu ihm kam also ein
gewisser Bruder, der ihm zugetan war, und erfragte den Grund für die
Traurigkeit nach einer solch großen Ausgelassenheit. Und jener sagte:
„Lasse für mich den Konvent der Brüder vollständig zusammenkommen.“
Wenig später wurde getan, was er erbeten hatte, und bald sagte er allen: 25
„Ach, ihr Liebsten, ihr habt an mir - auf eine Eingebung des Teufels hin -
die Kühnheit einer eitlen und frechen Ausgelassenheit gesehen; aber die
Mutter und Herrin der Barmherzigkeit hat nicht erlaubt, dass ich in Gefahr
gerate; sie hat mich für die Fröhlichkeit einer unpassenden Eitelkeit getadelt
und eher dazu gemahnt, mit einer Mäßigung der Hoffnung und in Furcht vor 30
Gott den letzten Tag zu erwarten. Ihr aber, liebste Brüder, bittet Gott, dass
6Vgl. zu der hier sowie in den folgenden beiden Unterkapiteln beschriebenen „heiligen
Heiterkeit" auch die ähnliche Episode im Predigertraktat des Dominikaners Stephan von
Bourbon (um 1180 oder 1190 95-1261): Stephani de Borbone Tractatus II,III, l. 25-30. Zu
Stephans, außerdem Kapitel II. 1. der Einleitung zur Edition. | ^Augustiner-Chorherrenabtei
Saint-Jean-des-Vignes in Soissons. S. für weitere Informationen Thom. Cantimpr. BUA II, 12,7.