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BUA 11,53
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53. Im Winter verbergen sie sich, und dann ernähren sie sich von dem
Honig, den sie im Sommer gesammelt haben.
[1] Als Winter bezeichnen wir die Mitte zwischen der Zeit, in der die Seele,
vom Körper befreit, zur Ruhe oder zu ihrer Bestrafung übergeht, und dem
letzten Tag der Wiederauferstehung, da die Seele mit dem Körper vereint 5
und in ewige Unsterblichkeit gekleidet wird. Und man sagt trefflich „sie
verbergen sich“, und zwar mit dem Körper im Grab, was der Prophet Daniel
„im Staub schlafen“ nennt. Und er hat „im Staub“ gut gewählt, weil gemäß
dem, das zum ersten Menschen gesagt wurde - „Du bist Staub und zu Staub
wirst du wieder werden“ - Körper im Allgemeinen zu Staub zerfallen. Von 10
dieser Bedingung ausgenommen ist nur der Körper Christi, der keinen
„Verfall“ erfuhr, weil er „am dritten Tage“ wiederauferstand. Davon ist
gemäß dem wahrredenden Augustinus1 auch der Körper der Mutter Christi
ausgenommen. In Bezug darauf glauben wir und der Evangelist Johannes
aufrichtig, dass auch die, die wie die Gefährten der Leiden Christi waren, so 15
gerecht sind und schon jetzt gemeinsam mit Christus mit der Unsterblichkeit
„des Trostes“ angetan sind.
[2] Wir haben auch den Körper eines gewissen Heiligen gesehen, der fast
600 Jahre in unversehrtem Zustand geblieben war. Bei welcher Gelegenheit
ich dies aber gesehen habe, werde ich kurz erzählen. In einer Stadt 20
Deutschlands, in Trier, der ältesten Stadt ganz Europas, gab es ein gewisses
wunderbares Bauwerk, von dem man sagt, dass es der Palast von Helena,2
der Mutter Konstantins,3 gewesen sei. Dieses Gebäude wurde, damit es bei
einer Gefahr für die Stadt nicht vorher von den Feinden besetzt würde, von
den Bürgern zerstört.4 In dessen Seitenteil, von Norden her gesehen, fand 25
1Hl. Augustinus (354-430), Kirchenlehrer, seit 396 Bischof von Hippo Regius. S. für weitere
Informationen Thom. Cantimpr. BUA 1,1,1. | ^Helena (um 250-um 328), römische Kaiserin,
Mutter von Kaiser Konstantin aus der Verbindung mit Constantius I. (Chlorus). Während die
Verbindung Helenas zu Trier wohl historisch einzig über ihren Sohn Konstantin, der Trier zur
Residenz machte, zu belegen ist, wurde der Kaiserin seit dem 9. Jahrhundert von
mittelalterlichen Hagiographen eine Abstammung aus Trier angedichtet. S. hierzu BINSFELD,
Art. ,,Helena“ sowie FRIEDRICH, Gottgeliebte Mutter, S. 81-83. | 3Konstantin I. (um 280-337),
römischer Kaiser seit 306 bzw. 324 (als Alleinherrscher über das gesamte Imperium). Aus der
reichhaltigen Literatur zur (mittelalterlichen) Rezeption von Konstantins Leben und Wirken s.
die Beiträge in Konstantin der Große, hg. GOLTZ/SCHLANGE-SCHÖNINGEN. | ^Archäologische
Funde bei Ausgrabungen in den Jahren 1945-1946, namentlich Deckenmalereien im Bereich
des Trierer Doms, die auf Wohnanlagen aus der konstantinischen Zeit schließen lassen,
scheinen diese im Mittelalter verbreitete Episode zu stützen. Weder ist jedoch gesichert, dass ein
Palast zugunsten einer Kirchenanlage niedergerissen wurde, noch, dass das betreffende
Gebäude in einen Zusammenhang mit Helena zu bringen ist. S. hierzu BINSFELD, Art. „Helena“
sowie FRIEDRICH, Gottgeliebte Mutter, S. 86-87.
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53. Im Winter verbergen sie sich, und dann ernähren sie sich von dem
Honig, den sie im Sommer gesammelt haben.
[1] Als Winter bezeichnen wir die Mitte zwischen der Zeit, in der die Seele,
vom Körper befreit, zur Ruhe oder zu ihrer Bestrafung übergeht, und dem
letzten Tag der Wiederauferstehung, da die Seele mit dem Körper vereint 5
und in ewige Unsterblichkeit gekleidet wird. Und man sagt trefflich „sie
verbergen sich“, und zwar mit dem Körper im Grab, was der Prophet Daniel
„im Staub schlafen“ nennt. Und er hat „im Staub“ gut gewählt, weil gemäß
dem, das zum ersten Menschen gesagt wurde - „Du bist Staub und zu Staub
wirst du wieder werden“ - Körper im Allgemeinen zu Staub zerfallen. Von 10
dieser Bedingung ausgenommen ist nur der Körper Christi, der keinen
„Verfall“ erfuhr, weil er „am dritten Tage“ wiederauferstand. Davon ist
gemäß dem wahrredenden Augustinus1 auch der Körper der Mutter Christi
ausgenommen. In Bezug darauf glauben wir und der Evangelist Johannes
aufrichtig, dass auch die, die wie die Gefährten der Leiden Christi waren, so 15
gerecht sind und schon jetzt gemeinsam mit Christus mit der Unsterblichkeit
„des Trostes“ angetan sind.
[2] Wir haben auch den Körper eines gewissen Heiligen gesehen, der fast
600 Jahre in unversehrtem Zustand geblieben war. Bei welcher Gelegenheit
ich dies aber gesehen habe, werde ich kurz erzählen. In einer Stadt 20
Deutschlands, in Trier, der ältesten Stadt ganz Europas, gab es ein gewisses
wunderbares Bauwerk, von dem man sagt, dass es der Palast von Helena,2
der Mutter Konstantins,3 gewesen sei. Dieses Gebäude wurde, damit es bei
einer Gefahr für die Stadt nicht vorher von den Feinden besetzt würde, von
den Bürgern zerstört.4 In dessen Seitenteil, von Norden her gesehen, fand 25
1Hl. Augustinus (354-430), Kirchenlehrer, seit 396 Bischof von Hippo Regius. S. für weitere
Informationen Thom. Cantimpr. BUA 1,1,1. | ^Helena (um 250-um 328), römische Kaiserin,
Mutter von Kaiser Konstantin aus der Verbindung mit Constantius I. (Chlorus). Während die
Verbindung Helenas zu Trier wohl historisch einzig über ihren Sohn Konstantin, der Trier zur
Residenz machte, zu belegen ist, wurde der Kaiserin seit dem 9. Jahrhundert von
mittelalterlichen Hagiographen eine Abstammung aus Trier angedichtet. S. hierzu BINSFELD,
Art. ,,Helena“ sowie FRIEDRICH, Gottgeliebte Mutter, S. 81-83. | 3Konstantin I. (um 280-337),
römischer Kaiser seit 306 bzw. 324 (als Alleinherrscher über das gesamte Imperium). Aus der
reichhaltigen Literatur zur (mittelalterlichen) Rezeption von Konstantins Leben und Wirken s.
die Beiträge in Konstantin der Große, hg. GOLTZ/SCHLANGE-SCHÖNINGEN. | ^Archäologische
Funde bei Ausgrabungen in den Jahren 1945-1946, namentlich Deckenmalereien im Bereich
des Trierer Doms, die auf Wohnanlagen aus der konstantinischen Zeit schließen lassen,
scheinen diese im Mittelalter verbreitete Episode zu stützen. Weder ist jedoch gesichert, dass ein
Palast zugunsten einer Kirchenanlage niedergerissen wurde, noch, dass das betreffende
Gebäude in einen Zusammenhang mit Helena zu bringen ist. S. hierzu BINSFELD, Art. „Helena“
sowie FRIEDRICH, Gottgeliebte Mutter, S. 86-87.