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Thomas; Burkhardt, Julia [Hrsg.]
Von Bienen lernen: das "Bonum universale de apibus" des Thomas von Cantimpré als Gemeinschaftsentwurf : Analyse, Edition, Übersetzung, Kommentar (Teilband 2): Analyse, Edition, Übersetzung und Kommentar — Regensburg: Schnell + Steiner, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.53742#0948
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BUA 11,53

943

[18] Die zweite Hilfe für die Verstorbenen wird bezeichnet, wo es heißt:
bitte, das heißt: bete. Daher wird im zweiten Buch der Makkabäer gesagt:
„Es ist also ein heiliger und nützlicher Gedanke, für die Verstorbenen zu
beten, damit sie von ihren Sünden erlöst werden.“
[19] Ich werde also etwas berichten, woraus dies klar und deutlich in einem 5
Beispiel offenbar wird. Als Kaiser Otto starb,27 war eine gewisse Verwandte
von ihm Vorsteherin in einem Kloster von Jungfrauen; diese war auf
wundersame Weise im Eifer der Reinheit gegenüber ihren Untergebenen
entbrannt. Sie beobachtete also eines Tages das Fenster des
Empfangszimmers und hörte früh morgens etwas leicht dagegen schlagen. 10
Nachdem sie das Fenster geöffnet hatte, siehe, da erschien der Kaiser seiner
Tante und sagte: „Ich bin gestorben und werde im Fegefeuer durch Strafen
gepeinigt. Sende also Boten zu verschiedenen frommen Klöstern und sorge
dafür, dass zehnmal 1.000 Psalme für mich gelesen werden, und zwar so,
dass man zu den einzelnen Psalmen zehn Hiebe zur Züchtigung erhält und 15
zu jedem einzelnen Vers der Engelsgruß ,Ave Maria‘28 und das Gebet des
Herrn ,Vaterunser‘ hinzugefügt werden. Der Psalm ,De profrmdis‘ soll aber
gesprochen werden, wann immer die Züchtigung empfangen wird. Ich habe
es zu Lebzeiten verdient, nach meinem Tod mit solchen Heilmitteln befreit
zu werden.“ Und bemerke, dass derselbe Otto, der gütigste Kaiser, in dem 20
seinem Tode vorausgehenden Jahr29 eine gewaltige Menge Getreide zur Zeit
einer Teuerung an verschiedene Klöster und Arme mit freigiebiger Hand
verteilt hatte. Und sofort als die Boten ausgesandt worden waren, wie er es
der Tante angeordnet hatte, wurde deren Auftrag von ihnen allen mit
höchster Frömmigkeit angenommen und ausgeführt. Otto erschien also der 25
besagten Tante an demselben Fenster, das wir beschrieben haben, und
wurde in der Morgenröte von einem so hellen Schein umgeben, dass jene
ihn auf keine Art erkannte; allerdings hörte sie dies: „Ich danke dir und du
^Otto IV. (1175/76-1218), römisch-deutscher König und Kaiser Die folgende Episode über den
Bußeifer und die Freigiebigkeit des frommen Kaisers greift Erzählmotive auf die auch in dem
Bericht des Zisterzienserabtes Friedrich von Walkenried über den Tod Ottos (Narratio de morte
Ottonis IV. imperatorisj anklingen. Eine Abschrift dieses Textes stammt aus dem Kloster Villers,
dessen Abt für die Visitation des von Ottos Ehefrau Maria von Brabant (ca. 1190-1260)
gegründeten Klosters zuständig war; es ist also denkbar, dass Thomas von Cantimpre die
Erzählungen vom Kaisertod über Kontakte zum Löwener Hof Marias von Brabant bzw. zu
Villers kennenlernte. Für Hinweise sei Bernd Schneidmüller und Manuel Kamenzin gedankt. S.
zum Text Schneidmüller, Weifentode, S. 25-26, Hücker, Otto IV, S. 443-452 sowie Kamenzin,
Die Tode, S. 86-92. Zu Maria s. ESCHER HIRSCHMANN, Maria von Brabant. | 28Engelsgruß oder
englischer Gruß, ca. seit dem 6. Jh. Bestandteil des Mariengebets Ave Maria. S. für weitere
Informationen Thom. Cantimpr. BUA 11,29,6. | 291217. Otto IV. starb am 19. Mai 1218 auf der
Harzburg.
 
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