Metadaten

Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2011 — 2012

DOI Kapitel:
I. Das Geschäftsjahr 2011
DOI Kapitel:
Wissenschaftliche Sitzungen
DOI Kapitel:
Öffentliche Gesamtsitzung in Konstanz am 10. Dezember 2011
DOI Artikel:
Seibel, Wolfgang: Besatzung, Kollaboration und Massenverbrechen: Die Endlösung der Judenfrage in Frankreich, 1940–1944
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.55657#0113
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
132

SITZUNGEN

ligen Massenverbrechens widmet. Dass der Holocaust ein solches arbeitsteiliges
Verbrechen war, ist durch die Forschung namentlich der vergangenen zwei Jahr-
zehnte umfangreich nachgewiesen worden, sowohl für Deutschland selbst als auch
für die Gebiete unter deutscher Besatzung während des Zweiten Weltkriegs. Die
Einzigartigkeit des Holocaust liegt in der Verbindung von Ideologie und industriali-
siertem Massenmord. Arbeitsteiliges, ja in vielfacher Hinsicht routinisiert-verwal-
tungsmäßiges Vorgehen einer Vielzahl von Instanzen und Organisationen bildeten
die Voraussetzung für die lückenlose Erfassung der jüdischen Bevölkerung im
deutschen Herrschaftsbereich, ihre Kennzeichnung in Dokumenten und auf ihrer
Kleidung auf offener Straße, ihrer Zusammenfassung in Lagern, für den legalisierten
Raub ihres Eigentums und schließlich für Deportation und Massenmord.
Ein arbeitsteiliges Massenverbrechen beruht notwendigerweise auf der Mit-
wirkung vieler Menschen, die für das Verbrechen selbst kein Primärmotiv haben. Die
Helfer des Massenverbrechens sind daher die eigentliche Schlüsselgruppe, wenn es
um das Verstehen und Erklären des Holocaust als arbeitsteiliges Massenverbrechen
geht. In tatsächlicher Hinsicht, weil ohne sie das Massenverbrechen nicht durchführ-
bar gewesen wäre. In analytischer Hinsicht, weil man im Unterschied zur eigentli-
chen Kerngruppe der Verfolger, das heißt zum Terrorapparat von SS und Gestapo, ein
wesentlich breiteres Spektrum an Handlungsmotiven annehmen muss als rassistische
Ideologie oder Loyalität gegenüber der politischen Führung, also namentlich
gegenüber der Person Hitlers. Wenn eine große Zahl von Menschen ohne entspre-
chendes Primärmotiv für die Verfolgung der Juden nicht nur in Deutschland, son-
dern in einer Vielzahl von Ländern unter deutscher Herrschaft mehr oder weniger
verlässlich oder jedenfalls doch in großer Breite mobilisiert werden konnte, so
müssen dieser Mobilisierung allgemeine und daher auch verlässlich erwartbare
Sekundärmotive zugrunde gelegen haben.
Eines dieser Sekundärmotive ist angelegt im Mechanismus der Reziprozität,
wie er der „Kollaboration“ zwischen der französischen Regierung in Vichy und der
deutschen Besatzungsmacht zu Grund lag. Die Tatsache, dass französische Mithilfe
für die Durchführung der Verhaftungen und Deportationen der Juden unerlässlich
war, gleichzeitig aber eine faktische Machtteilung zwischen Besatzern und Vichy-
Regierung bestand, bedeutet, dass über die Beteilung der französischen Polizei und
der zuständigen Verwaltungsstellen verhandelt werden musste. Diese Verhandlungen
folgten der Logik eines reziproken Austauschs. Arbeitsteilung und „Kollaboration“
führten dazu, dass die Vichy-Regierung die Mitwirkung der französischen Polizei an
den Verhaftungen und Deportationen der Juden Anfang Juli 1942 zunächst zusagte,
sie aber bereits im September 1942 wieder einschränkte. Die Folge ist ein deutliches
Absinken der monatlichen Deportationsraten, die bis zur Befreiung im August 1944
nie wieder die anfängliche Höhe vom Sommer 1942 erreichten.
Zunächst hatte die Vichy-Regierung der Mitwirkung der eigenen Polizei an
der Verhaftung und Deportation der Juden zugestimmt, weil von deutscher Seite
erhebliche Verbesserungen bei der Ausrüstung und Ausbildung und vor allem eine
Stärkung der Autonomie der französischen Polizei zugestanden worden waren. Aus-
schlaggebend für die Änderung dieser Haltung wurde der innenpolitische Wider-
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften