10. Dezember 2011
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stand, der von einigen wenigen, aber einflussreichen Würdenträgern der katholi-
schen Kirche ausging. Die Kirche hatte die anfänglichen Maßnahmen, welche die
Vichy-Regierung selbst gegen die Juden in Gang gesetzte hatte - die gesonderte
Registrierung, den Ausschluss aus zahlreichen Berufen, die „Arisierung“ jüdischer
Firmen und die umfassende Konfiszierung jüdischer Vermögenswerte — mit
Schweigen oder Verständnis begleitet. Die Verhaftung von Juden auf offener Straße
und das von Szenen der Verzweiflung und des Leids begleitete Auseinanderreißen
von Familien buchstäblich unter den Gewehrkolben französischer Polizisten löste
jedoch eine Welle der Empörung sowohl in der Bevölkerung als auch im Klerus
aus.
Es war paradoxerweise die privilegierte politische Stellung, welche die Vichy-
Regierung der Kirche selbst eingeräumt hatte, die nun den Spielraum der „Kolla-
boration“ einengte. Anfang September 1942 verlangte der Vichy-Regierungschef
Pierre Laval unter ausdrücklichem Hinweis auf den Protest der Kirchenevertreter
von der SS-Führung in Paris, den von Adolf Eichmann auch für Frankreich ausge-
arbeiteten Deportationsplan zu lockern. Dem wurde mit Zustimmung durch Hein-
rich Himmler nachgegeben — vermutlich in der Erwartung, dass sich die „Endlösung
der Judenfrage“ nach einem für Deutschland siegreichen Ausgang des Krieges auch
in Frankreich von selbst ergeben würde und sich eine Belastung der ansonsten guten
Kollaborationsbeziehungen zwischen deutschen und französischen Polizeiinstanzen
schon aus diesem Grund nicht lohnte. Später jedoch, im Sommer 1943, führte eine
für Deutschland erheblich verschlechterte militärische und politische Situation dazu,
dass die SS ihre Prioritäten neuerlich anpassen musste. Nun kam es umso mehr auf
die Kollaborationsbereitschaft der französischen Polizei bei der Bekämpfung der
Resistance im Rücken einer möglichen ,zweiten Front’ nach einer alliierten Landung
an. Die Wiederaufnahme der Verhaftungen und Deportationen der Juden in dem im
Sommer 1942 begonnen Umfang unter Beteiligung großer französischer Polizei-
kontingente erwies sich als nicht durchsetzbar.
Was die „Endlösung der Judenfrage“ in Frankreich faktisch scheitern ließ, war
also eine Störung des Gleichgewichts der impliziten Austauschbeziehung zwischen
SS und Vichy-Regierung, wie es sich im Juli 1942 zunächst herausgebildet und zur
Mitwirkung der französischen Polizei an der Verhaftung und Deportation der Jude
geführt hatte. Mit dem Protest der hohen Kirchenvertreter stimmte auf Seiten der
Vichy-Regierung gewissermaßen die Rechnung nicht mehr. Der Vorteil, den man
zuvor in Form größerer Autonomie für die eigene Polizei und eine bessere Aus-
rüstung und Ausbildung gewonnen hatte, wurde nun durch den Nachteil einer
innenpolitischen Schwächung überkompensiert.
Die Lehre, die aus dem französischen Fall in der Geschichte des Holocaust
gezogen werden kann, liegt daher im Verhältnis von Reziprozität und Moral. Selbst
Mittäter ohne moralische Skrupel können zur Aufgabe oder Einschränkung ihrer
Mittäterschaft veranlasst werden, wenn die Mobilisierung von Moral einen negati-
ven Einfluss auf den Nutzen hat, den sie aus der Kooperation mit der Kerngruppe
der Verfolger ziehen. Dies macht gleichzeitig deutlich, dass das moralische Urteil
eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung der Verhinderung oder Ein-
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stand, der von einigen wenigen, aber einflussreichen Würdenträgern der katholi-
schen Kirche ausging. Die Kirche hatte die anfänglichen Maßnahmen, welche die
Vichy-Regierung selbst gegen die Juden in Gang gesetzte hatte - die gesonderte
Registrierung, den Ausschluss aus zahlreichen Berufen, die „Arisierung“ jüdischer
Firmen und die umfassende Konfiszierung jüdischer Vermögenswerte — mit
Schweigen oder Verständnis begleitet. Die Verhaftung von Juden auf offener Straße
und das von Szenen der Verzweiflung und des Leids begleitete Auseinanderreißen
von Familien buchstäblich unter den Gewehrkolben französischer Polizisten löste
jedoch eine Welle der Empörung sowohl in der Bevölkerung als auch im Klerus
aus.
Es war paradoxerweise die privilegierte politische Stellung, welche die Vichy-
Regierung der Kirche selbst eingeräumt hatte, die nun den Spielraum der „Kolla-
boration“ einengte. Anfang September 1942 verlangte der Vichy-Regierungschef
Pierre Laval unter ausdrücklichem Hinweis auf den Protest der Kirchenevertreter
von der SS-Führung in Paris, den von Adolf Eichmann auch für Frankreich ausge-
arbeiteten Deportationsplan zu lockern. Dem wurde mit Zustimmung durch Hein-
rich Himmler nachgegeben — vermutlich in der Erwartung, dass sich die „Endlösung
der Judenfrage“ nach einem für Deutschland siegreichen Ausgang des Krieges auch
in Frankreich von selbst ergeben würde und sich eine Belastung der ansonsten guten
Kollaborationsbeziehungen zwischen deutschen und französischen Polizeiinstanzen
schon aus diesem Grund nicht lohnte. Später jedoch, im Sommer 1943, führte eine
für Deutschland erheblich verschlechterte militärische und politische Situation dazu,
dass die SS ihre Prioritäten neuerlich anpassen musste. Nun kam es umso mehr auf
die Kollaborationsbereitschaft der französischen Polizei bei der Bekämpfung der
Resistance im Rücken einer möglichen ,zweiten Front’ nach einer alliierten Landung
an. Die Wiederaufnahme der Verhaftungen und Deportationen der Juden in dem im
Sommer 1942 begonnen Umfang unter Beteiligung großer französischer Polizei-
kontingente erwies sich als nicht durchsetzbar.
Was die „Endlösung der Judenfrage“ in Frankreich faktisch scheitern ließ, war
also eine Störung des Gleichgewichts der impliziten Austauschbeziehung zwischen
SS und Vichy-Regierung, wie es sich im Juli 1942 zunächst herausgebildet und zur
Mitwirkung der französischen Polizei an der Verhaftung und Deportation der Jude
geführt hatte. Mit dem Protest der hohen Kirchenvertreter stimmte auf Seiten der
Vichy-Regierung gewissermaßen die Rechnung nicht mehr. Der Vorteil, den man
zuvor in Form größerer Autonomie für die eigene Polizei und eine bessere Aus-
rüstung und Ausbildung gewonnen hatte, wurde nun durch den Nachteil einer
innenpolitischen Schwächung überkompensiert.
Die Lehre, die aus dem französischen Fall in der Geschichte des Holocaust
gezogen werden kann, liegt daher im Verhältnis von Reziprozität und Moral. Selbst
Mittäter ohne moralische Skrupel können zur Aufgabe oder Einschränkung ihrer
Mittäterschaft veranlasst werden, wenn die Mobilisierung von Moral einen negati-
ven Einfluss auf den Nutzen hat, den sie aus der Kooperation mit der Kerngruppe
der Verfolger ziehen. Dies macht gleichzeitig deutlich, dass das moralische Urteil
eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung der Verhinderung oder Ein-